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Karlheinz Stockhausen
»Zur Situation des Metiers (Klangkomposition)«
[Auszug]
[...] Wir haben uns seit einiger Zeit darüber informiert, daß jeder Ton (ein Schallvorgang mit bestimmter Tonhöhe) und jedes Geräusch (ein Schallvorgang mit unbestimmbarer oder nur im Mittel approximativ bestimmbarer Tonhöhe) als ein Gemisch – ein »Spektrum« – (von Teiltönen) darstellbar ist. Das heißt, jedes bisher in der Musik oder auch allgemein in der Natur vorkommende akustische Phänomen ist zurückführbar auf eine Anzahl von einfachen Schwingungen, die man (mit gewissen mathematischen Einschränkungen) »Sinusschwingungen« nennen kann. Man kann solche Teilschwingungen eines komplexen Schallvorgangs einzeln hörbar machen.
Es gibt Apparate (»Filter« oder »Resonatoren«), die eine solche Analyse eines Schallvorgangs mit großer Annäherung durchführen. Und wenn man es aus besonderen Gründen wünscht, kann man eine solche Zerlegung eines Spektrums auf einem Bildschirm sichtbar machen, wie es die Amerikaner Potter und Kopp im »visible-speech«-Verfahren für Sprach- und Gesangslaute entwickelt haben. Das eigensinnige Beharren einiger Musiker auf dem Standpunkt, es gäbe aber dennoch Klangphänomene, die nicht auf solche einfachen Sinusschwingungen zurückführbar seien, wird sich noch genauer mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen haben. Bis zur Stunde ist es eine Frage des Filteraufwandes, wie weit man solche Spektralzerlegungen praktisch durchzuführen imstande ist.
Es bleibt noch zu erwähnen, daß man sich das menschliche Ohr beim Hören eines Schallvorganges wie ein differenziertes Filter, oder besser, wie einen inneren Resonatorsatz von resonanzfähigen Fasern vorstellen kann, das jeden Klang in seine Teilschwingungen zerlegt, um so je nach Lage, Verteilung und Stärke sowie nach Dauer der einzelnen Schwingungen Klangfarbenunterschiede, Höhen- und Lautstärkeunterschiede der Töne wahrnehmen zu können. Die so in ihre Teilkomponenten zerlegte Klanginformation wird vom Bewußtsein dann wieder als mehr oder weniger einheitlicher Klangeindruck konstatiert. Letzteres ist abhängig von der subjektiv verschieden stark ausgebildeten Analysierfähigkeit.
Ausgehend von dieser Tatsache ist es für den Komponisten natürlich interessant, wie man solche Sinustöne künstlich herstellen kann, um sie dann umgekehrt zu Spektren zu komponieren. Das ist möglich, indem man quasi sinusförmige elektrische Schwingungen hörbar macht mittels eines »Sinuston-Generators« und einer Lautsprecheranlage. Ein solches Verfahren nennt man »elektronische« Tonerzeugung. Zur Realisation dieser Spektral-Komposition bedient man sich außerdem der Tonspeicherungsmöglichkeiten, die durch Magnetophonaufnahme- und -wiedergabeverfahren gegeben sind.
Sinustöne – die man auch »Frequenzen« nennt – sind durch einen Frequenzgenerator in beliebiger Höhe, Dauer und Intensität erzeugbar. Ein Sinuston klingt ungefähr wie ein Flötenton, der ja unter den bekannten Instrumenten der obertonärmste ist.
Komponiert man also solche Sinustöne unter Berücksichtigung bestimmter Verhältnisse – von denen noch gesprochen wird – zu einem Tongemisch, so
erhält man einen Schallvorgang, den man entweder schon kennt, oder noch
nicht gehört hat. Letzteres ist natürlich möglich, da man alle nur denkbaren
Sinustonkombinationen durchführen kann, und da sich darunter auch solche
befinden, die unter den bisher gebräuchlichen Instrumenten oder unter den in
der Natur vorkommenden »Geräuschen« oder »Tönen« nicht existieren. Das
aber ist offenbar weniger wichtig. Solche klanglichen Bereicherungen unserer
Vorstellung verbrauchen sich sehr rasch und werden bald gewohnt. Vielmehr
ist das prinzipielle daran bedeutsam: Daß sich dem Komponisten die Möglichkeit eröffnet, Strukturprinzipien in die Verhältnisse der einfachsten Elemente alles
Klanglichen, der Sinustöne nämlich, hineinzubringen, um dadurch klangliche
Verschiedenheiten innerhalb eines Werkes – also verschiedene Formen gleichzeitiger Kombination von Sinustönen – als serielle Klangvarianten zu »komponieren« und in den integralen Ordnungsprozeß einzubeziehen.
Selbst wenn die Teiltöne mit ihren seriell bestimmten Intervall-, Lautstärke-
und Zeitdauerproportionen in einem Sinustongemisch nicht mehr einzeln
hörbar werden und der Eindruck eines zu einer Einheit zusammengeschmolzenen Klangkomplexes resultiert – was ja gerade bei der »Klangfarben-Komposition« besonders beabsichtigt ist – selbst dann ist es doch wesentlich, daß
auf Grund einer bestimmten seriellen Auswahl und Proportionierung eine
Familie von Klängen in einem Werk existiert, und daß diese Klangfamilie
einen der Reihe entsprechenden Grad an Homogenität und Exklusivität erreicht, der damit für diese bestimmte Komposition charakteristisch ist. Der Einwand, man höre ja dann die »serielle Ordnung« nicht mehr, vor allem in einem solchen Falle, da, sogar mit Absicht, die seriellen Beziehungen wieder durch resultierende Phänomene verdeckt würden – dieser Einwand geht so sehr am wesentlichen Problem der Reihenkomposition überhaupt vorbei, wie die Rede von den »12-Tonreihen in bisherigen Instrumentalkompositionen, die man ja gar nicht verfolgen könne«. Wer sieht die Atome? Und doch weiß jeder, daß von ihrer Struktur alle materielle Erscheinung abhängt.
Quelle: Karlheinz Stockhausen, »Zur Situation des Metiers (Klangkomposition)« (1953); in: ders., Texte zur Musik(/em), Dieter Schnebel (Hg.), Köln 1963 ff., Bd. I, S. 48.