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ThemenGenerative ToolsGenerative Art
Die Methodik der generativen Kunst
Tjark Ihmels, Julia Riedel

http://mkn.zkm.de/themen/generative_tools/generative_art/

Bereits Wolfgang Amadeus Mozart entwickelte ein »musikalisches Würfelspiel«[1], das die meisten Elemente in sich trägt, die heutzutage mit generativen Tools in Verbindung gebracht werden. Das Stück trägt den erklärenden Untertitel: »Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componieren ohne musikalisch zu seyn noch von der Composition etwas zu verstehen«. Mozart komponierte dafür 176 Takte Musik, aus denen durch Würfeln sechzehn Takte aus einer Liste auswählt wurden, die dann am Klavier vorgetragen ein neues Stück ergaben. Sechzehn Takte mit je elf Möglichkeiten ergeben 1116 verschiedene Musikstücke, wovon jedes eine eigene Komposition darstellt. Anhand dieses historischen Beispiels lässt sich die Methodik von generativer Kunst gut umschreiben: Die konsequente Anwendung eines vordefinierten Handlungsprinzips zum bewussten Ausschluss oder als Ersatz individueller ästhetischer Entscheidungen setzt die Generierung neuer gestalterischer Inhalte aus dafür bereitgestelltem Material in Gang. Bei dem genannten Musikstück handelt es sich keineswegs um eine einmalige Spielerei des Komponisten. Ein Skizzenblatt zum Adagio KV 516 zeigt einen Entwurf, dernach einem, dem Würfelspiel ähnlichem Prinzip aufgebaut ist. So liegt die Vermutung nahe, dass sich hinter diesem Verfahren eine ernsthafte Arbeitsmethode verbirgt, die Mozart teilweise angewendet hat, um sich an Kompositionen heranzuarbeiten. Die Musikwissenschaft führte dafür den Begriff der »aleatorischen Musik«[2] ein. Der Name leitet sich von dem lateinischen Substantiv »aleator« (der Würfelspieler) ab und könnte für das genannte Beispiel nicht zutreffender gewählt sein. In der aleatorischen Musik werden Zufallskriterien in Kompositionsprozesse einbezogen. Zu dieser Gattung gehören eine beträchtliche Anzahl von musikalischen Werken. Es bietet sich an im Zusammenhang mit generativen Tools einige dieser Kompositionen vorzustellen, da hier wesentliche künstlerische Ansprüche postuliert wurden, die in die aktuelle Diskussion über generative Kunst einbezogen werden müssen. In einem beispielhaften Überblick soll im Folgenden dargestellt werden, dass sich mit dem Begriff »generativ« keine einheitliche künstlerische Haltung verbindet, sondern eine Methode künstlerischer Arbeit, die aus den unterschiedlichsten Motiven zum Einsatz kam und kommt. Interessant ist dabei zu beobachten, dass diese Arbeitsweise nicht nur in Verbindung mit einem Genre aufgetreten ist, sondern sich in fast allen Gebieten der künstlerischen Praxis nachweisen lässt (Musik, Literatur[3], bildende Kunst). Die in diesem Artikel vorzustellenden Werke wurden ausgewählt, um an ihrem Beispiel wesentliche künstlerische Ansatzpunkte von »Kunst in definierten Abhängigkeiten« darzustellen. Anhand von drei künstlerischen Standpunkten aus der Musikgeschichte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts soll zunächst aufgezeigt werden, wie unterschiedlich die Zielrichtungen sein können, obwohl sich alle drei Künstler der aleatorischen bzw. seriellen Methode bedienten. Abseits von allen musiktheoretischen Erwägungen soll dabei einzig und allein die Frage erörtert werden, welche inhaltlichen und formalen Möglichkeiten die Anwendung einer solchen Methode bietet. John Cage benutzte den Zufall als definierte Regel in konsequenter Weise, um vorherbestimmte Zusammenhänge auszuschließen. Sein Anliegen war es, die völlige Unabhängigkeit des Klanges vom Komponisten zu ermöglichen. Dafür nutzte Cagebeispielsweise Tonträger (Instrumente), die von seiner Komposition völlig unabhängig waren. In »Imaginary landscape no. 4« (1951) entwarf er ein Stück für 24 Radioapparate. In traditioneller Notation legte er Rhythmen und Abläufe fest, dennoch blieb das Ergebnis unvorhersehbar, abhängig von Ort und Zeit der Aufführung, Sendefrequenzen und Radioprogrammstrukturen. Cages Bestreben gipfelt in dem Stück »4'33« (1952). Es gibt nur noch ein festgelegtes Parameter: die Dauer des Stückes. Ohne jegliches Zutun von Musikern fügt sich der entstehende Klang vom Moment des Beginns des Stückes an aus unterschiedlichsten Nebengeräuschen, beispielsweise dem Rascheln und Räuspern des Publikums oder dem Rauschen des vorbeifahrenden Verkehrs zusammen. Sein künstlerisches Ziel war: Die Klänge sollen zu sich selbst finden. Die aus der Tradition der aleatorischen Werke entstandene serielle Musik [4], hauptsächlich vertreten durch Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Henri Pousseur oder Gottfried Michael Koenig, verfolgt in den fünfziger Jahren den genau gegenteiligen Ansatz: Die serielle Komposition ordnet alle akustischen Eigenschaften wie Tonhöhe, Tondauer, Anschlag, Klangfarbe und Lautstärke - unabhängig voneinander - einheitlichen Ordnungsprinzipien, beispielsweise Zahlenproportionen unter. Dadurch gelingt es, getrennte musikalische Aspekte in eine übergeordnete Gesamtbeziehung zu zwingen. Als Ordnungssystem werden mehrheitlich Reihen (angelehnt an die Zwölftonreihe) oder Dauerreihen verwendet, welche, um Wiederholungen auszuschließen, ständig variieren. Die ästhetischen Kriterien der Musik werden den Ordnungsprinzipien untergeordnet. Diese Methode ermöglicht dem Komponisten, alle denkbaren Details der Komposition uneingeschränkt zu kontrollieren. Das Werk wird unabhängig von den Nuancierungen der Interpretation und kann so in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden. Nur konsequent erscheint es deshalb, dass für die Arbeit an seriellen Kompositionen elektronische Instrumente einbezogen wurden. »Prinzipiell geht es überhaupt nicht um die Verwendung ungewohnter Klänge, sondern darum, dass die musikalische Ordnung in die Schwingungsstruktur der Schallvorgänge hinein getrieben wird, dass die Schallereignisse in einer Komposition integralerBestandteil dieses und nur dieses Stückes sind und aus seinen Baugesetzen hervorgehen.«[5] Mit Hilfe der Apparate konnte der Klang aus den einzelnen Parametern zusammengesetzt werden. Der Einsatz elektronischer Geräte machte die Übersetzung kompositorischer Anleitungen in maschinenlesbare Anweisungen notwendig, so dass mathematische Operationen in den Vorgang des Komponierens einflossen. Mit »Studio II« (1954) veröffentlichte Karlheinz Stockhausen erstmalig ein Notenblatt für elektronische Musik, bestehend aus exakten Einstellungen der Apparaturen und Beschreibungen der Handlungsabläufe. 1959 öffnete Stockhausen dann allerdings sein kompositorisches Werk der subjektiven Interpretation. Im »Zyklus für einen Schlagzeuger« wurden wieder individuelle Entscheidungsmöglichkeiten eingeräumt, bedingt durch die Anwesenheit eines Musikers. Yannis (Iannis) Xenakis verzichtete auf den Einsatz von Reihen und konstruierte seine serielle Musik (wie kaum ein anderer Komponist) aus mathematischen, physikalischen, architektonischen und teilweise geologischen Berechnungen. Mit dem Aufstellen seiner Ordnungsprinzipien strebte er eine funktionierende Verbindung zwischen den unterschiedlichen künstlerischen Bereichen an. Er suchte den dreidimensionalen Klang, der die Musik und die Architektur vereint. Seine aktive Mitarbeit im Atelier von Le Corbusier während der fünfziger Jahre ermöglichte es Xenakis, der in Athen Architektur studiert hatte, seine musikalischen Erkenntnisse in die Architektur einzubringen. »Pans de Verre Ondulatoires«[6], die Fensteranordnung des Kreuzganges und der Hauptfassade des Klosters »La Tourette«[7] (1955-1959), entwarf er nach musikalisch-rhythmischen Kriterien (siehe auch »Philips-Pavillion« der Brüssler Weltausstellung 1958). Darüber hinaus war Xenakis entscheidend an der Entwicklung des Computerprogramms UPIC (Unite Polyagogique Informatique du CEMAMu)[8] beteiligt, das grafische Aufzeichnungen in Musik übersetzte. Eine komplexe computergesteuerte Universalmusik sollte der Vereinfachung des Komponierens und der Demokratisierung der Musik dienen. Die Maßgabe dafür war: eine auch für Laien verständliche Programmstruktur zu erschaffen, die dennoch nuancierte Facetten der Klangerstellung realisiert.Festzuhalten bleibt, dass durch die Einführung eines übergeordneten Regelsystems und dessen konsequenter Ausführung Kunstwerke geschaffen wurden, denen es gelang, Verbindungen zwischen scheinbar unvereinbaren Strukturen und Aspekten herzustellen und dadurch einzigartige, komplexe und in sich differenzierte Klänge zu erzeugen. Grundvoraussetzung dafür war die Festlegung, alle musikalischen Parameter unabhängig von einander zu betrachten, sie strukturell gleichwertig zu behandeln und den daraus resultierenden Klang in Abhängigkeit zum Faktor Zeit zu verstehen. Die unterschiedliche künstlerische Interpretation der gleichen Arbeitsmethode brachte mit Cage und Stockhausen zwei Künstler hervor, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Es wurde also ein Arbeitsgebiet erschaffen, in dem entgegengesetzte Pole bezogen werden konnten. Innerhalb dieses Arbeitsgebietes, begrenzt durch die beiden genannten Extrempositionen, verband Xenakis die Musik mit Arbeitsstrukturen der Naturwissenschaften, der Architektur und der anderen Künste. Er versuchte, ihre Ordnungsprinzipien auf seine Musik anzuwenden bzw. sie mit seiner Musik zu beeinflussen. Dabei muss betont werden, dass neben allen intellektuellen Überlegungen, welche hinter jeder der aufgezeigten Positionen stehen, die Frage nach der Gestaltung, nach der Form der entscheidende Antrieb der künstlerischen Arbeit war. Das gemeinsame künstlerische Ziel, dass jeder dieser Künstler auf unterschiedlichste Weise verfolgte war es, den Klang vom Willen des Komponisten zu befreien. Damit sind drei wesentliche Denkstrukturen für die künstlerische Arbeit mit generativen Elementen aufgezeigt, die nicht nur für die Musik Gültigkeit haben, sondern auch Künstler aus anderen Gattungen beschäftigen. Die generative Methodik stellt eigene Anforderungen an die bildende Kunst. Seit den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich einzelne Pioniere der Computerkunst mit der Festlegung von allgemeingültigen Regeln zur Schöpfung von generierten bildnerischen Werken auseinandergesetzt. Im Folgenden werden anhand der Werke von Max Bense, Manfred Mohr, Harold Cohen und John Horton Conway exemplarisch vier wesentliche Voraussetzungen zur Anwendung der generativen Methodik auf die Bildende Kunstvorgestellt. Max Bense führte bereits 1965 den Begriff der »generativen Ästhetik« ein und definierte selbige als »[…] die Zusammenfassung aller Operationen, Regeln und Theoreme […], durch deren Anwendung auf eine Menge materialer Elemente, die als Zeichen fungieren können, in diesen ästhetische Zustände (Verteilungen bzw. Gestaltungen) bewusst und methodisch erzeugbar sind«[9]. Durch die Auswertung von statistischen Gesetzmäßigkeiten hoffte Bense einen rationalen Ansatz zum Bildaufbau zu erlangen. Er unterteilte Bildflächen in kleine Raster und untersuchte die einzelnen Farbwerte nach ihren inneren Zusammenhängen, um auf diese Weise neue Bilder nach vordefinierten Kriterien erschaffen zu können. Erfolglos gab er diese Methode allerdings wieder auf. Bense widmete sich fortan der semiotischen Betrachtung und verband damit das künstlerische Ziel, »[…] eine rationale Herstellung von Kunst […]«[10] durch eine rationale Erzeugung von Zeichen zu realisieren. Der Angriffspunkt für seine Untersuchungen blieb dabei der ästhetische Prozess. »Tatsächlich sind solche ästhetischen Systeme, genau wie die Information, Ausdruck einer Verteilungs- und Auswahlfunktion, und beide, also die relative Häufigkeit eines Zeichens wie auch die relative Freiheit, die man besitzt, es unter anderen verfügbaren Möglichkeiten auszuwählen, sind zu Beginn des ästhetischen Prozesses im Verhältnis zur Häufigkeit und Auswahlmöglichkeit anderer Zeichen (unter den überhaupt vorgegebenen) im Allgemeinen keineswegs statistisch bevorzugt. Im Großen und Ganzen sind die Wahrscheinlichkeiten, ausgewählt zu werden und zu erscheinen, für alle Zeichen der verfügbaren Menge zunächst einmal gleich«[11] Der ästhetische Akt des Formens gehört dann allerdings zu »[…] jener Klasse von Prozessen, die mit gleichen Wahrscheinlichkeiten, also rein stochastisch, beginnen, in deren Verlauf jedoch die Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Zeichen ausgewählt werden können und auftreten, immer größer wird, indessen die Wahrscheinlichkeit für gewisse andere […] sich immer stärker verringert und schließlich verschwindet.«[12] Manfred Mohr[13] arbeitete unter dem theoretischen Einfluss Benses. Er versuchte, dem Anspruch nach Erzeugung einer rationalen Kunst, die auch den Beinamen »künstliche Kunst« erhielt, nachzukommen, indem er emotionslose und logische Konzepterealisierte, die so ausgerichtet waren, dass anstehende ästhetische Entscheidungen von einem Computerprogramm übernommen wurden. In der Serie »Cubic Limit« (1973-1977) wird ein zwölfkantiger Würfel systematisch demontiert und liefert auf diese Weise das Bildmaterial. Der Würfel als »Urstruktur« blieb Mohrs großes Arbeitsfeld, das später durch den so genannten Hyperwürfel (ein vierdimensionaler Würfel mit zweiunddreißig Kanten) erweitert wurde. Durch die systematische Anwendung von Operationen wie Rotation, Addition/ Substraktion etc. entstand eine unerschöpfliche Vielzahl von ästhetischen Zeichen, die das Material der künstlerischen Arbeit Mohrs wurden. Für seinen Zyklus »frühe algorithmische Arbeiten« (1969-1972) fügte er seinen Bildern Texte bei, die ihre Erstellung als Computergrafik für jedermann nachvollziehbar werden ließen, um den Beruf des Künstlers vom mythischen Nimbus zu befreien und die automatisierte Entscheidungsfindung zu unterstreichen. Harold Cohen entwickelte Anfang der siebziger Jahre das Computerprogramm »Aaron«.[14] Die Zeichenmaschine erstellte zuerst abstrakte, später figürliche Zeichnungen, die Cohen nachträglich kolorierte. In den achtziger Jahren befähigte Cohen das Programm, selbstständig eine Farbauswahl zu treffen und den Farbauftrag auszuführen. Funktionsfähig wurde das Programm durch ein komplexes Regelwerk, in dem Cohen allgemeingültige ästhetische Anforderungen an Linien, Flächen, Formen und Farben formulierte und die Aufteilung eines Blattes analysierte. Er arbeitete dabei die allgemeingültigen Charakteristika eines jeden Elementes heraus und versah sie zum Zwecke der Variation mit kleineren Ungenauigkeiten. Automatisierte Gestaltung geht also zunächst immer von den verallgemeinerbaren Darstellbarkeiten, nicht von den individuellen Besonderheiten einer Form aus. Dargestellt wird nicht ein Baum, sondern das Prinzip Baum. Bense und Cohen versuchten, ästhetische Entscheidungsprozesse zu algorithmisieren, d.h. die gestalterischen Grundfragen zu analysieren und in abzuarbeitende Einzelschritte aufzuschlüsseln. Diese Methode unterscheidet sich eindeutig von der Bildgenerierung aus fraktalen Mengen, die zwischenzeitlich sehr populär wurde und lediglich mathematische Approximationsprozesse in Farbpunkte übersetzte. Damit war ein Kanonerarbeitet, der mögliche Regeln für eine automatisierte Anwendung von gestalterischen Entscheidungen vorgibt. 1970 entwickelte der amerikanische Mathematiker John Horton Conway in einer Reihe von so genannten »simulation games« das »Game of Life«[15]. Simuliert wird die weitere Entwicklung der nachfolgenden Generationen von Lebenszellen, die auf einem schachbrettartigen Spielfeld einzusehen sind. Abhängig von ihrer Nachbarschaft bleiben sie am Leben, sterben oder bringen neues Leben hervor. Die Fortentwicklung der folgenden Generation hängt von bestimmten Regeln ab, die für ihre Vorgängergeneration festgelegt worden sind. Auch bei relativ einfachen Ausgangskonfigurationen ist es äußerst schwierig, die nächstfolgende Generationenkonstellation vorherzusehen. Man muss es spielen und erlebt dabei immer wieder unerwartete Entwicklungen. »Game of life« hat eine Schlüsselposition in der regelabhängigen Gestaltung inne und erregt unter den unterschiedlichsten Benutzergruppen eine hohe Aufmerksamkeit. Als Regelwerk interessierte es die Mathematiker, in seiner einfachen Darstellung wurde es eine Inspiration für zahlreiche Künstlerpersönlichkeiten und begeisterte nicht zuletzt die Spieler. Eine stattliche Anzahl von Computerprogrammen wurde entwickelt, die »game of life« nachbildeten. In den siebziger und achtziger Jahren haben sich viele Computerbenutzer mit diesem Spiel beschäftigt. Die Lebensdauer und grafische Form der unterschiedlichsten Populationen von Lebenszellen wurden beobachtet und analysiert. Neben den schnell vergänglichen Lebewesen entstehen stabile Populationen, die aus einer Verbindung mit zwei oder drei Nachbarn hervorgehen und nach Conway »still lifes« genannt wurden. Systematisch erhielten diese Konstellationen Namen wie »Blinker«, »Glider« oder »Eater«. Aus dem Aufeinandertreffen solcher Konstellationen können dann beispielsweise nach dreißig Generationen »glider guns« entstehen. Es gab Untersuchungsreihen, die teilweise bis in die 1102. Generation führten und von einer stabilen Population berichteten, die detailliert beschrieben wurde. Die Faszination des Spiels lag sowohl in seiner Vielschichtigkeit als auch in seiner berechenbaren Unberechenbarkeit. »Game of life« bot eine Möglichkeit, grafische Aspekte einem fortdauerndenSystem unterzuordnen und damit vom Individuum unabhängige Formen zu generieren, indem ein dem Lebenszyklus nachempfundener Algorithmus zugrunde gelegt wurde. Für viele der Künstler, die sich mit generativer Methodik auseinander gesetzt haben, verkörperte Conways »game of life« einen nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Der interdisziplinär arbeitende Künstler Brian Eno hielt im März 2001 an der Londoner ICA eine Vorlesung über seinen Kompositionsprozess in Bezug auf Conways »game of life« und führte den Begriff »generativ« in die Musik ein. Sein Werk »Generative Music 1« wurde 1996 erstmalig auf dem »Urban Aboriginals XI Festival« in der Berliner Parochialkirche präsentiert. Mit »generative music 1« reduzierte Eno, der bereits mit »ambient music« Mitte der siebziger Jahre entscheidende Werke mit variierenden veränderbaren Klängen entwickelt hatte, die Aufgabe des Komponisten auf die Definition des Zusammenhangs zwischen Klang und einzelnen Parametern und die Festlegung der zur Auswahl stehenden Klangcharakteristika. Den Schritt zur Umsetzung generativer Musik ermöglichte ihm die technische Entwicklung einer kommerziellen Software[16], mit der Musik in ständiger Veränderung erschaffen werden konnte, ohne sich dabei zu wiederholen. Brian Eno wird zitiert mit dem Satz: »Ich glaube wirklich, dass unsere Enkel uns einmal fragen werden: du meinst, ihr habt euch damals wirklich ein und dasselbe Stück immer und immer wieder angehört?«[17] Hinter diesem Satz steht der aktuelle Anspruch an generative Kunst: Eine sich ständig weiterentwickelnde Form zu schaffen; eine Form, die ihr eigenes Entwicklungspotential prozessual ausschöpft. Für diese Kunstform sind Regeln unumgänglich, da fortlaufend Entscheidungen über die weitere Entwicklung einzelner Zustände gefällt werden müssen, die wiederum den weiteren Verlauf beeinflussen. Die dafür nötigen spezifischen Regeln werden als wertfreie Ordnungssysteme für die Steuerung von Prozessen im algorithmischen Sinne verstanden. Ein Algorithmus ist »eine endliche Liste von Instruktionen, die wohl definiert sind. Für jedes Problem einer Klasse von Problemen liefert der Algorithmus nach endlich vielen Schritten eine Lösung, indem [er] die Instruktionen eine nach der anderen ausführt«[18]. Wenn also ein komplexes Regelwerk, im Sinne eines Algorithmus,zugrunde liegen muss, um Gestaltung zu generieren, stellt sich die Frage, welche Anforderungen es zu leisten hat, um einer Form Ausdruck zu verleihen. Genau genommen verbergen sich zwei unterschiedliche Teilaspekte hinter dieser Anforderung. Als erstes müssen allgemeingültige Regeln gefunden werden, nach denen Formen und Farben generiert werden - siehe Bense und Cohen. Und als zweites muss ein System zur fortlaufenden Veränderung und Variation der zu generierenden Form festgelegt werden, welches das erste Regelwerk mit einbezieht - siehe Conway. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die künstlerische Auseinandersetzung mit generativer Methodik von nun an auf fortlaufende Prozesse. Dabei spielt die eingesetzte Technologie eine herausragende Rolle. Sie bestimmt wesentlich die Möglichkeiten und das Ausmaß systematischer Regelanwendungen wie bei allen bisher vorgestellten Arbeiten dargestellt wurde (beispielsweise Würfel, Synthesizer oder Computer). Das Internet bietet ideale Voraussetzungen, Kunst mit Hilfe von fortlaufenden Prozessen zu generieren: Es ist ein geeignetes Interface, mit dessen Hilfe zahlreiche Personen gleichzeitig an einem Projekt arbeiten können. Zusätzlich eröffnet sich ein schier unerschöpflicher Pool an neuen Formen und Inhalten, auf die nun ein großes Kollektiv zugreifen kann. Bemerkenswert ist, dass sich mit der rasanten Ausbreitung dieses Mediums seit Ende der neunziger Jahre der Gedanke der Demokratisierung und Ent-Individualisierung einer prozesshaften Form stark verbreitet hat, allerdings vorerst keine grundlegend neuen künstlerischen Positionen im Bezug auf generative Methoden entwickelt wurden. Die Besonderheit des Internet ist, dass es nicht auf eine Anwendungsmöglichkeit beschränkt ist, sondern, genreübergreifend, in allen denkbaren künstlerischen Arbeitsgebieten Einsatz findet. Auf diese Weise bietet sich die Möglichkeit, die verschiedensten künstlerischen Disziplinen und Bereiche miteinander zu verknüpfen. Beispielhaft zu nennen sind Prozessvisualisierungen, Animationen, Installationen, VJ-Events, Sample-Music oder programmierte Applikationen, etc. Die folgenden ausgewählten Beispiele aus den genannten Bereichen belegen die Vielseitigkeit und Variationsbreite der Anwendungsmöglichkeiten generativer Methodik imZeitalter des Internet. In einer Art automatisierter Collagenerzeugung suchen Websites wie http://www.potatoland.com/shredder zum Teil über Suchmaschinen oder eingegebenen URLs unterschiedliche Bilder und bauen sie nach vorgegeben Parametern zu eigenständigen künstlerischen Werken zusammen.

Marius Watz

Marius Watzdokumentiert mit seinen »Drawing Machines 1-12«[19] die Informationsströme auf dem Server der norwegischen Regierung. Er unterscheidet die aufgezeichneten Datenströme in Mikro- und Makrostrukturen und generiert daraus bildnerische Werke über einen festgelegten Zeitraum.

Knowbotic Research

Ende der neunziger Jahre entwickelte die Kölner Künstlergruppe Marius Watz das Netzkunstwerk »IO_dencies«[20] (ein Modell für mehrere Städteprojekte), in dem sie die urbanen Kräftefelder beispielsweise der Stadt Tokio (1997) sichtbar machten. Zehn Stadtgebiete, die als Verkehrs- und Geschäftsknotenpunkte geeignet waren, wurden mit ihren Energiepotentialen zu Zonen der Intensität erklärt und konnten nach Untergruppen (Mensch, Information, Ökonomie, Verkehr, Architektur) aufgeteilt und separat oder zusammengeführt grafisch verändert werden.

Mashica

Die Künstlergruppe Mashica programmierte 2002 ihr Werk »Hommage to Walter Marchetti - movements of a fly on window between 8 am and 7 pm one day in May, 1967« auf der Website http://mosca.mashica.com. Eine von 0 bis 99 einstellbare Anzahl von Fliegen bewegt sich nach Zufallskriterien über die gedachte Scheibe des Monitors. Der einzige Link der Seite führt zu einer Auflistung der Mouse-Positionen, auf denen sich der Benutzter während seiner Betrachtung befunden hat. Eine symbolische Fliege läuft noch einmal alle eingenommenen Mouse-Positionen ab und übersetzt damit visuell, dass auch das Verhalten des Betrachters nicht viel gezielter und durchdachter als das der anderen Fliegen ist. In dieser Animation werden Formen oder Figuren generiert, die ein scheinbares Eigenleben entfalten und sich auf diese Weise, von der linearen Dramaturgie losgelöst, definierten Regeln unterwerfen.

Soda

In dem gleichen Anwendungsgebiet arbeitet die Künstlergruppe Soda mit ihrem Projekt »sodaconstructor«[21]. Hier wird ein grafisches Gebilde gebaut, das sich mit einem simulierten Eigenleben hinund her bewegen. Das Gebilde ist an seinen Gelenken mit der Mouse fassbar und kann gedreht, geschoben oder deformiert werden. Wahlweise kann das Wesen durch virtuelle Gravitation, die Heftigkeit der Kollision und Reibung beeinflusst werden. Das gebaute Wesen kann mit anderen Massekonstellationen ausgerüstet, selbst neu zusammengebaut werden und Töne produzieren.

Carsten Nicolai

Carsten Nicolai wendete die generative Methodik in seiner Installation »bausatz noto« in der Galerie Eigen + Art in Leipzig 1998 an. Vier Plattenspieler (Technics MKII) waren nebeneinander in einen Tisch eingelassen. Auf jedem dieser Plattenspieler lag eine Schallplatte. Auf insgesamt 48 Rillen waren Loops eingebrannt, die sowohl über Kopfhörer als auch einen Außenlautsprecher in den Galerievorraum Töne übertrugen. Durch eine hohe Variabilität des Abspielens konnten aus den einzelnen Elementen unendlich variierbare Versionen generiert werden. Carsten Nicolai lieferte das Material und das Equipment, das Publikum (als DJ) produzierte die Sounds. Was dabei produziert wurde, blieb zufällig und ist nicht wiederholbar.

Sven Bauer

Sven Bauer übersetzte mit seinem Projekt »Fünf Räume«[22] (2003) die Aufgabenstellung der seriellen Komponisten in die bildnerische Darstellung: die Befreiung der Form vom Künstler. Er begreift seine künstlerische Arbeit als Forschung. Geradezu didaktisch bereitet Bauer seine Untersuchungsergebnisse auf. Analog zur Herangehensweise der seriellen Komponisten isolierte er fünf Gestaltungsparameter (Farbe, Substanz, Position, Neigung und Abstraktion) und unterwarf die Form dem an die Astronomie angelehnten so genannten Attraktorenprinzip. In jedem der fünf Räume werden den drei Attraktoren, die um die dreidimensionale Form (der Würfel als Ausgangsform) rotieren, gestalterische Einflussmöglichkeiten auf die Form zugewiesen. Den insgesamt 15 Attraktoren (drei pro Raum) sind stufenlos steuerbare Freiheitsgrade zugeordnet. So können sie plötzlich ihre Bewegung ändern und damit den Einflussradius auf das Objekt partiell verlagern , langsamer in ihrer Bewegung werden oder ganz stehen bleiben. Dadurch gelingt es Bauer, Versuchsanordnungen für sowohl detaillierte Einstellungen durchzuführen als auch zufallsgesteuerte Aspekte der Gestaltung zuzulassen und beidemiteinander zu kombinieren. Die jeweiligen Gestaltungsparameter werden auf eine zweidimensionale Grafik übertragen, die dann das Zusammenspiel aller Attraktoren endlos und in den vorgegebenen Rahmenbedingungen veränderbar widerspiegelt. Im Gegensatz zu den eben vorgestellten anwendungsbezogenen Beispielen rückt für eine kleinere Anzahl von Künstlern die Beschäftigung mit den Regeln bzw. Instruktionen in das Zentrum ihrer künstlerischen Tätigkeit [Software Art][23]. Hierbei werden nicht mehr artfremde Systeme bzw. Regeln auf die Kunst angewendet, um die Form vom Individuum zu befreien, sondern es wird angestrebt, das Regelsystem selbst als Kunstwerk zu definieren.

Socialfiction.org

»dot-walk«[24] von socialfiction.org erhebt die Reglementierungen zum Kunstwerk, in dem Handlungsanweisungen für einen Spaziergang durch eine Stadt vorgegeben werden. Diese Vorgabe entspricht einem Algorithmus und lässt sich auf ein einfaches Computerprogramm zurückführen: //Classic.walk Repeat [ 1 st street left 2 nd street right 2 nd street left ] Das pchychogeografische Projekt »dot.walk« liefert eine Handlungsanweisung (Software) zur Benutzung einer Stadt (Hardware). Grundsätzlich verlangt diese künstlerische Position aber nicht zwingend eine Auseinandersetzung mit programmierter Software, sondern reflektiert Regularien und ihren Einsatz ganz allgemein. Das künstlerische Interesse konzentriert sich dabei auf die Instruktion. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die generative Methodik genreübergreifend zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten angewendet wurde. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts bildeten sich künstlerische Positionen heraus, die diese Methode nicht nur als Arbeitshilfe, sondern als integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit verstanden. Dabei stand nicht die Methode selbst im Mittelpunkt ihrer Betrachtung, sondern sie wurde als das geeignete Prinzip zur Umsetzung von künstlerischen Zielen erkannt und entsprechend eingesetzt. Zeitgleich suchten Computerkünstler nach den Voraussetzungen zur Generierung von Formen. Mit der Verbreitung des Internet stand ein Werkzeug zur Verfügung, welches das Prinzip der Generierung in sich trägt. Es fand Einsatz in allen Bereichen künstlerischen Schaffens und erweiterte die Möglichkeiten der Darstellung,Distribution und des interdisziplinären Arbeitens. Daraus ergaben sich zahlreiche Anwendungsgebiete, in denen die generative Methode zum Einsatz kam. Neben all diesen anwendungsbezogenen Aufgabenstellungen rückten die Regelwerke und ihre Programmierung selbst ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung. Gesucht und reflektiert wurde nicht mehr die Regel zur Erstellung einer Form, sondern die Regel selbst. Anhand der entsprechend hervorgehobenen künstlerischen Werke lässt sich folgender Grundsatz ableiten: Generative Kunst begründet immer aus sich selbst heraus die Notwendigkeit, generativ zu sein.

© Medien Kunst Netz 2004