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ThemenKunst und KinematografieDebord
»Ciné qua non«: Guy Debord und die filmische Praxis als Theorie
Thomas Y. Levin

http://mkn.zkm.de/themen/kunst_und_kinematografie/debord/

Das einzig interessante Unterfangen ist die Befreiung des Alltags, nicht nur im Hinblick auf eine historische Perspektive, sondern für uns und zwar sofort. Dies bringt das Absterben von entfremdeten Formen der Kommunikation mit sich. Auch das Kino muss zerstört werden. [1]

Es ist die Gesellschaft und nicht die Technologie, die das Kino zu dem gemacht hat, was es ist. Das Kino hätte eine historische Untersuchung sein können, oder Theorie, Essay, Erinnerungen. Es hätte genau der Film sein können, den ich in diesem Moment mache. [2]

1. Die Gesellschaft des Spektakels

Unter den verschiedenen gesellschaftlichen Praxisformen, die Guy Debord als Beispiele für das dienen, was er die »Gesellschaft des Spektakels« nennt, sind das Fernsehen und das Kino die ohne Zweifel am häufigsten angeführten. In dieser Hinsicht typisch ist die amerikanische Ausgabe von Debords parataktischem theoretischen Text »La Société du Spectacle« (im Folgenden SdS genannt), in dem eine filmische Ikonografie nicht nur die Vorder- und die Rückseite des Buches dominiert – die ein Foto vonZuschauern eines 3-D-Filmes zeigen – , sondern sich den ganzen Band hindurch mit Hilfe einer Reihe von Illustrationen fortsetzt, die in die perforierten Rahmen eines Filmstreifens platziert wurden.

Obwohl das Kino sicherlich eine bevorzugte Form für die Gesellschaft des Spektakels ist, wäre es dennoch ein Fehler anzunehmen, Debords »Spektakel« sei ein Synonym für die »Spektakularität« des filmischen Mediums. Im Gegenteil, so macht schon der Anfang von Debords Text deutlich, wird das theoretische Konzept des Spektakels benutzt, um einen historischen, sozio-ökonomischen Zustand zu kennzeichnen: »Das Spektakel ist nicht eine Sammlung von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen« (SdS, These 4). [3] Für Debord bezeichnet das Spektakel eine Weltanschauung (einfach ausgedrückt: die Entfremdung im Spätkapitalismus), die sich selbst in verschiedenen spektakulären Phänomenen, zu denen auch das Kino gehört, manifestiert: »Die zugleich anwesende und abwesende Welt, die das Spektakel zur Schau stellt, ist die jedes Erlebnis beherrschende Warenwelt« (SdS, These 37). Die Verwirrung, die den Begriff »Spektakel« umgibt, ist auf gewisse Weise die Folge einer Ambiguität in Debords Verwendung des Begriffes. Manchmal bezieht dieser sich auf den Bereich der Darstellung, wie es dank der strukturellen Analogie in der einleitenden These von SdS deutlich wird: »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar gelebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.« In der folgenden These differenziert Debord hingegen zwischen »Bildern der Welt« und »dem Spektakel überhaupt, [das] als konkrete Verkehrung des Lebens die eigenständige Bewegung des Unlebendigen« ist. Obwohl diese Unterscheidung selbst eine genaue und sorgfältige Interpretation verdient hätte, muss es für die vorliegende Untersuchung genügen zu sagen, dass die letztgenannte Verwendung des Ausdruckes allegorisch gemeint ist: »Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Lähmung von Geschichte und Gedächtnis, des Verzichts auf dieGeschichte, der auf der Grundlage der geschichtlichen Zeit fußt, ist das falsche Bewusstsein der Zeit« (SdS, These 158). Die Verschmelzung ihrerseits geht zurück auf Debords rhetorische Verwendung des Begriffs der Spektakel als Abbilder bzw. Darstellungen, um damit seine Interpretation von »Spektakel« als der Allegorie des Spätkapitalismus zu konkretisieren.

2. Spektakel und Kino

Ein charakteristisches Beispiel für diese Strategie ist unter den Illustrationen in der Zeitschrift Internationale situationniste (IS) zu finden – einer umfangreichen Sammlung von Montagen und Collagen bestehend aus Gegenständen der Warenwelt, darunter solche Zweckentfremdungen [4] wie mit neuen Überschriften versehene oder neu bearbeitete Anzeigen, Comic-Strips, Zeitungsfotos, Abbildungen von spärlich bekleideten Frauen, Illustrationen aus Bedienungsanleitungen, Grafiken usw. [5] In einer der letzten Ausgaben der Zeitschrift ist eine Reproduktion einer Zeitschriftenanzeige für eine Filmkamera der deutschen Firma Eumig zu sehen, deren Text lautet: »ICH LIEBE MEINE KAMERA, WEIL ICH ES LIEBE ZU LEBEN: Ich zeichne die besten Momente meines Lebens auf und lasse sie in all ihrer Reichhaltigkeit wieder aufleben, wann immer ich es will.« (Abb. 3 und Bildunterschrift) Unter dem Foto steht eine Bildunterschrift mit dem Titel »Die Beherrschung des Lebens durch das Spektakel«, die sich wie folgt liest: »Diese Werbung für die Eumig-Kamera (Sommer 1967) weist sehr treffend auf die Vereisung des individuellen Lebens hin, das in der spektakulären Perspektive umgekehrt wurde: die Gegenwart wird als etwas hingestellt, das gleich als Erinnerung erlebt wird. Durch diese Verräumlichung der Zeit, die sich in die illusorische Ordnung einer ständig zugänglichen Gegenwart fügen muß, sind die Zeit und das Leben gleichzeitig verlorengegangen.« [6]

In diesem Fall ist Film nicht die Ursache, sondern eine Illustration, eine ›Beschwörung‹ bzw. Vergegenwärtigung – obgleich eine bevorzugte – einer soziopolitischen und erkenntnistheoretischen Veränderung, die im Spätkapitalismus stattgefunden hat. Eine Haltung zur Produktion von Spektakel (in den eigenen vier Wänden gedrehte Filme) wird gesehen als ein Symptom einer »spektakulären Ökonomie« (derZeitstruktur von entfremdeten sozialen Verhältnissen). Oder wie Debord es Jahre später, in einem versteckten Hinweis auf diese Anzeige, ausdrückt: »Wenn jemand das Leben liebt, dann geht er ins Kino.« [7] – siehe die »Situationisten im Kino«.[Abb. 4 und BU] Der Widerstand gegen das leichtfertige in einen Topf Werfen von Kino und Spektakel ist unumgänglich, wenn man das komplexe Verhältnis zwischen der Situationistischen Internationale (SI) und dem Medium Film verstehen will. Geht man davon aus, dass das Kino ein Synonym für das Spektakel ist – eine Raumeinteilung der Zeit, eine Inszenierung der Trennung, eine Begünstigung der Passivität und der Entfremdung usw. –, ist es ganz einfach inakzeptabel und muss beseitigt werden. Zusammen mit anderen Formen des Spektakels, darauf besteht Debord, »muss auch das Kino zerstört werden.« [8] Trotzdem bleibt die Frage, in welchem Ausmaß die Missbilligung des Kinos in diesem Fall eine Kritik an der Politik des ›Apparates‹ ist, die vergleichbar ist mit den Thesen von Martin Heidegger und später von Jean-Louis Baudry und Jean-Louis Comolli in Bezug auf die Vergegenständlichung, die zu jeglicher Form von Darstellung gehört. [9] Es könnte nämlich sein, dass hier nicht das Kino als solches das Thema ist, sondern vielmehr ein historisch spezifisches Konglomerat von filmischen Mitteln, eine bestimmte Art von Kino – klassisch, kommerziell, industrialisiert, erzählend usw. Debord drückt es so aus: »Es ist die Gesellschaft und nicht die Technologie, die das Kino zu dem gemacht hat, was es ist. Das Kino hätte eine historische Untersuchung sein können, oder Theorie, Essay, Erinnerungen.« [10] Dies lässt die Möglichkeit für eine alternative Form von filmischer Aktivität offen, die mit der Ökonomie des Spektakels inkompatibel ist. Die Möglichkeit eines nichtspektakulären, anti-spektakulären bzw. andersals- spektakulären Kinos ist die Vorbedingung für das, was man situationistisches Kino nennen kann.

3. Situationistische Internationale und künstlerische Avantgarde

Das Interesse am Kino von Seiten der SI muss man im Lichte der Bedeutung verstehen, die die künstlerische Avantgarde in ihrer Genealogie hat: eine wichtige Dimension dessen, was man das »situationistische Vorhaben« nennen könnte, beinhaltet die Produktionvon (Kunst)- Werken. Doch ausschlaggebend war, dass solche Werke kritische Kommentare in Bezug auf die aktuellen historischen Geschehnisse waren und ihre eigene Negation enthielten – das heißt sie sollten in gewisser Weise Anti-Werke sein. Raoul Vaneigem hat diese Haltung in einer Äußerung anlässlich der fünften SI-Konferenz, die im August 1961 in Göteborg (Schweden) stattfand, folgendermaßen ausgedrückt: »Es ist nicht eine Frage des Herausarbeitens eines Spektakels der Ablehnung, sondern einer Ablehnung des Spektakels. Damit ihre Herausarbeitung künstlerisch sein kann in dem neuen und authentischen Sinne, wie die SI ihn definiert, dürfen die Elemente der Zerstörung des Spektakels nicht länger Kunstwerke sein. Es gibt weder so etwas wie Situationismus oder ein situationistisches Kunstwerk noch gibt es, was das betrifft, einen Situationisten, der Spektakel erschafft.« [11] Tatsächlich stimmten die Teilnehmer der Konferenz daraufhin dem Vorschlag von Attila Kotányi zu, die Produkte einer solchen ästhetischen Aktivität von Seiten der SI »anti-situationistisch« zu nennen, unter der Voraussetzung, dass die wahren situationistischen Verhältnisse erst noch realisiert werden mussten. Debord besteht gleichermaßen darauf – mit einer Formulierung, die auf verblüffende Art und Weise an Adornos »Ästhetische Theorie« erinnert –, dass »nur die wahre Negation von Kultur deren Bedeutung bewahren kann. Sie kann nicht länger kulturell sein. Dementsprechend ist es genau das, was in gewisser Weise auf dem Niveau der Kultur bleibt, allerdings mit einer vollkommen unterschiedlichen Bedeutung.« [12] Die Widersprüche und Gefahren einer radikal-negativen Kultur-Kritik, die trotzdem auf der Herstellung von (Anti- )Kunst-Objekten besteht, waren ein Thema während der anhaltenden polemischen Debatte innerhalb der Reihen der SI. Und doch waren sie sich dessen genau bewusst, was sie selber beschrieben haben als die: »[…] unklare und gefährliche Politik, deren Risiken die SI eingehen musste, indem sie darin einwilligte, innerhalb der Kultur zu agieren, während sie sich gegen das gesamte vorherrschende System dieser Kultur und sogar gegen die gesamte Kultur im Sinne einer separaten Sphäre wendete. Diese unnachgiebige oppositionelle Haltung und das dazugehörige Programm sind auch nicht weniger unklarund gefährlich, weil sie dessen ungeachtet in der vorherrschenden Ordnung existieren müssen.« [13] Dieses strategische Zugeständnis wird wahrscheinlich nirgends deutlicher als im Verhältnis der SI zu dem am meisten davon betroffenen Medium, dem Film.

4. Situationistische Internationale und das Kino

Die erste offizielle Äußerung der Position der SI in Bezug auf das Kino taucht in einem Absatz in einem der ersten Artikel der ersten Ausgabe von IS aus dem Jahre 1958 auf, der bezeichnenderweise den programmatischen Titel »Für und gegen das Kino« trägt. [14] »Der Film ist die zentrale Kunstform in unserer Gesellschaft«, so steht es am Anfang des Leitartikels, und sowohl die formale als auch die anekdotenhafte Ausdrucksweise des Films wie auch seine materielle Infrastruktur sind »die beste Darstellung einer Epoche voller auf anarchische Weise nebeneinander gestellter Erfindungen (die nicht geordnet, sondern nur miteinander verbunden sind).« [15] Aber anstatt die außerordentlichen Kapazitäten zu nutzen, die sich dank der technischen Innovationen eröffnen – so heißt es weiter im Text –, bietet das Kino nur einen passiven Ersatz für die unitäre künstlerische Aktivität und eine exponentielle Zunahme der reaktionären Macht des nicht-partizipatorischen Spektakels. Der Text macht trotzdem deutlich, dass dies auch anders sein könnte: »[…] diejenigen, die diese [neue] Welt erbauen wollen, müssen gleichzeitig die Tendenz des Kinos bekämpfen, die Anti-Konstruktion von Situationen zu errichten (die Entstehung einer sklavischen Atmosphäre und die Aufeinanderfolge von Kathedralen), während sie gleichzeitig Notiz nehmen von der Bedeutsamkeit der neuen technologischen Entwicklungen (Stereo-Sound, Odorama), die wertvoll sind in und durch sich selbst.« [16]

Als das Gegenteil einer übers Knie brechenden, maschinenstürmenden Ablehnung der filmischen Technologie als solcher führt der Leitartikel den reaktionären Status des Mediums (das Fehlen von Avantgarde-Entwicklungen, wie sie in den plastischen Künsten und in der Literatur zu finden sind – siehe »Die zwei Avantgarden« von Peter Wollen sowohl auf die ökonomischen und ideologischen Zwänge als auch auf die soziale Wichtigkeit des Mediums zurück. Es ist wiederum diese Wichtigkeit, die es notwendig macht,dass das Medium unter der Kontrolle der herrschenden Klasse bleibt. Anstatt den Film als hoffnungslos verseucht aufzugeben, endet der Artikel mit einem Aufruf zu dessen Besitzergreifung. Der Film wird verglichen mit der Architektur (einem weiteren Hauptinteressensgebiet der SI), was seine Bedeutung für das alltägliche Leben angeht, die Schwierigkeiten, die jeder Versuch seiner Erneuerung mit sich bringt, und die Notwendigkeit genau solch einer Umgestaltung. Dies führt zu folgender Schlussfolgerung: »Man muss deshalb darum kämpfen, einen wahrhaft experimentellen Bereich innerhalb des Kinos in Besitz zu nehmen. Wir können zwei verschiedene Art und Weisen, das Kino zu nutzen, in Betracht ziehen: zunächst einmal seine Verwendung als eine Form der Propaganda in der vor-situationistischen Übergangsphase; und dann seine direkte Verwendung als ein wesentliches Element einer aktuellen Situation.« [17] Man könnte dies als den ersten, noch unfertigen Entwurf eines Manifestes eines (anti-) situationistischen Filmemachens deuten. Um ein detaillierteres Verständnis der Motive zu bekommen, die hinter dem Eintreten der SI für den Film als revolutionäre Waffe stecken, muss man sich die Äußerungen, die über ihre gesamten Veröffentlichungen verteilt sind, genauer anschauen. In einer der programmatischeren Aussagen, dem Schlussabschnitt des Artikels »Die Situationisten und die neuen Formen des Kampfes gegen die Politik und die Kunst«, tritt René Viénet dafür ein, dass die SI das Kino – »das neueste und ohne Zweifel nützlichste Ausdrucksmittel unserer Epoche« – als ein didaktisches, analytisches und kritisches Werkzeug nutzen muss: »Der Film eignet sich unter anderem besonders gut zur Untersuchung der Gegenwart als historisches Problem und zur Zerschlagung der Verdinglichungsprozesse. Selbstverständlich kann die historische Wirklichkeit nur im Laufe eines komplizierten Vermittlungsprozesses erreicht, erfaßt und verfilmt werden. […] Eine schwierige Vermittlung, wären die empirischen Tatsachen nicht selbst schon vermittelt; sie erwecken den Anschein der Unmittelbarkeit nur insofern und weil es einerseits am Bewußtsein der Vermittlung fehlt und weil die Tatsachen andererseits aus dem Bündel ihrer Bestimmungen herausgerissen, künstlich isoliert und in der klassischen Filmkunst mit dem Schnittschlecht verbunden worden sind. Gerade an dieser Vermittlung hat es dem vorsituationistischen Film gefehlt – mußte es ihm fehlen: ist er doch bei den sogenannten objektiven Formen stehen geblieben, bei der Wiederaufnahme politischmoralischer Konzepte, bei der schulischen Erzählmethode.« [18]

5. Die visuell-akustische Zweckentfremdung (détournement)

Viénets Auffassung von einem Filmmachen der SI nimmt die spezifischen Kapazitäten des Mediums in Anspruch (vor allem die fotografische Dokumentation, das Voice-Over und die analytische Montage), um den immer schon vermittelten Status der anscheinend unmittelbaren und »natürlichen Welt« zu enthüllen, die in dem klassischen bzw. vorsituationistischen Kino entworfen wurde. Die Gegenwart wird betrachtet als ein historisches Problem, Geschichte wird umgedeutet zu einem Problem der Darstellung, und vor allem wird die Methode der Darstellung selbst kontinuierlich einer kritischen Hinterfragung unterzogen. Diese Inszenierung von Vermittlung nimmt die Form einer Beschäftigung mit anderen Vermittlungen an, vor allem mit Hilfe der Wahlverwandtschaft des Kinos mit der wichtigen Strategie des Zitats und der Umdeutung, die als Zweckentfremdung bezeichnet wird. Tatsächlich geht das Herausgeber-Kollektiv der SI in einem programmatischen Essay so weit zu sagen, dass »das Kennzeichen der Bewegung und die Spuren ihrer Existenz und ihres Überlebenskampfes in der aktuellen kulturellen Realität zuallererst die Verwendung der Zweckentfremdung ist.« [19]

Es ist eben diese Fähigkeit zu einer visuell-akustischen Zweckentfremdung, in der die wichtigste Rechtfertigung des Kinos als einem Instrument der Aktivität der SI begründet liegt. Wie Debord und Gil J Wolman in ihrer Bedienungsanleitung zu dieser typischen Aktivität der SI bekräftigen, ist unter den verschiedenen Ausdrucksmitteln der Zweckentfremdung wie Poster, Schallplatten, Radiobeiträge und Comic-Strips keines besser geeignet als das Kino: »Im Rahmen des Films kann die Entwendung offensichtlich ihre größte Wirksamkeit erreichen – und ohne Zweifel ihre größte Schönheit für diejenigen, die sich mit dieser Sache beschäftigen.« [20] Eine solche Zweckentfremdung kannverschiedene Formen annehmen. Auf der einen Seite können – in der doppelten Bewegung dieser »mächtigen kulturellen Waffe« – der Kontext und die Bedeutung sowohl der unscheinbarsten Phänomene (Zeitungsausschnitte, Anzeigen, alltägliche Phrasen) als auch herausragender Elemente (Zitate von Marx und Saint- Just oder eine Szene aus einem Film von Eisenstein) verschoben und entfremdet werden, bevor sie dann später wieder neu definiert und umgeformt werden mit Hilfe einer radikalen Nebeneinanderstellung.

Auf der anderen Seite können ganze Filme »zweckentfremdet« werden: Debord und Wolman schlagen zum Beispiel «Birth of a Nation» vor wegen dessen Kombination von formalen Innovationen, die in der Geschichte des Kinos beispiellos dastehen, mit einer rassistischen Handlung, die vollkommen unerträglich ist. Statt den Film zu zensieren, wäre es besser, so lautet ihr Vorschlag, den Film als Ganzes einer Zweckentfremdung zu unterwerfen, sogar ohne notwendigerweise den Filmschnitt zu ändern, indem man einen Soundtrack hinzufügt, der die Gräuel der imperialistischen Kriege und die Aktivitäten des Ku Klux Klans, die ihrer Meinung nach in den USA bis heute andauern, auf eine wirkungsvolle Weise brandmarkt. [21] Zweckentfremdung könnte auch dazu benutzt werden, so fahren sie fort, Geschichte mit Hilfe des Films neu zu interpretieren und theoretische Forderungen zu illustrieren. [22] In einem frühen Text kann man zudem einen amüsanten Vorschlag finden, wie man sich hoffnungslos kommerzielle Filme zueigen machen kann unter Verwendung der Zweckentfremdung als einer Form der Betrachtungsweise. An einem Punkt während des Umherschweifens in der Gegend (dérive) sollte man in einem Kino für etwas weniger als eine Stunde einen Halt machen und den gerade laufenden Abenteuer-Film wie folgt interpretieren: »[…] Man sollte die Helden einige mehr oder weniger historische Figuren sein lassen, die uns nahe stehen, man sollte die Geschehnisse des albernen Drehbuchs mit den wahren Beweggründen in Verbindung bringen, die, wie wir meinen, hinter den Aktionen stecken, und man sollte sie zudem auch mit den Ereignissen der laufenden Woche in Verbindung bringen. So hat man eine akzeptable kollektive Zerstreuung.« [23]

6. Filmische Praxis

Neben der Zweckentfremdung gibt es allerdings noch eine Reihe weiterer Argumente für die Wichtigkeit des Films innerhalb des schriftstellerischen Gesamtwerks der SI. Viénet besteht darauf, dass die SI von jedem ihrer Mitglieder verlangen kann, dass er genau so gut in der Lage ist, einen Film zu drehen, wie er einen Zeitschriftenartikel schreiben kann, weil der Film ein genauso mächtiges und zugängliches polemisches Medium ist wie Zeitschriftenartikel, Bücher, Flugblätter und Poster. Überdies würde seiner Meinung nach eine solche filmische Erfahrung die niedergeschriebene Äußerung zu den gleichen Problemen im Gegenzug noch »intensivieren«. [24] In einem Text mit dem Titel »Zur Debatte über Orientierung, Frühling 1970: Eine Bemerkung über die erste Serie von Texten« trifft Debord eine ähnliche Aussage aus der Überzeugung heraus, dass die Filmproduktion nicht nur aus rhetorischen, sondern auch aus finanziellen Gründen wichtig ist. [25] Unter der Überschrift »Das Kino«, der letzten einer Reihe von »Bescheidenen Vorschlägen«, schreibt er: »Jeder Film könnte zwei Situationisten, die als Assistenten arbeiten, die Gelegenheit geben, ihren eigenen Stil in dieser Sprache zu beherrschen; und der unvermeidliche Erfolg unserer Werke würde zudem die ökonomische Basis für die zukünftigen Produktionen dieser Genossen liefern. Die Erweiterung unseres Publikums ist von entscheidender Bedeutung.« [26] Aus diesem und anderen Gründen behauptet Debord, dass von all den vielen jungen Regisseuren aus verschiedenen Ländern, die den Film als ein Instrument der revolutionären Kritik zu nutzen versuchen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt »nur die Positionen und die Methoden der Situationisten (wie sie in den Thesen von René Viénet in unserer letzten Ausgabe formuliert wurden) einen direkten Zugang zu einer zeitgemäßen revolutionären Verwendung des Films haben – obwohl die politischen und ökonomischen Umstände natürlich noch Probleme aufwerfen können.« [27]

Diese Behauptung wird in einer Reihe von Filmrezensionen der LI (Lettristische Internationale) und der SI von Filmen von Julien Duvivier, dem »filmischen Verderben« [28] (eine empörte Rezension von «Marianne de ma jeunesse»), Federico Fellini (eine scharfe Kritik an «La Strada»), Agnès Varda («La pointe courte» wird getadelt wegen seiner nichtssagendenpolitischen Gesinnung), Alain Resnais (der erst gelobt wird für «Hiroshima mon amour» und dann heruntergeputzt wird für «L’année dernière à Marienbad»), Norman McLaren («Blinkity Blank» wird beschuldigt, das lettristische Kino zu plagiieren) und Jean-Luc Godard, »der blödeste der maoistischen Schweizer« (der in einer Reihe von Artikeln wegen seiner filmischen Politik attackiert wird, speziell in Bezug auf «A bout de souffle» und «Le gai savoir»), weiter ausgeführt. [29] Den besten Einblick in die »gegenwärtige revolutionäre Verwendung des Kinos« durch die SI kann man allerdings nur anhand der Filme, die sie selber – und vor allem Guy Debord – gedreht haben, gewinnen. »Je veux un ciné qua non!« [30]

7. Guy Debord als Filmemacher

Ja. Guy Debord, der Theoretiker und Kritiker des Spektakels par excellence, war – wie er selber oft betont hat – Filmemacher. [31] Es ist eine sehr merkwürdige und oft ignorierte Tatsache, dass Debord – neben dem Schreiben, dem Organisieren und dem Herausgeben der SI, dem Verhindern von Abspaltungen und dem Bloßstellen von Betrügern und Verrückten – von 1952 bis 1978 nicht weniger als sechs 35mm-S/W-Tonfilme gedreht hat und darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Filme geplant hat. [32] Auch wenn dies eine Überraschung zu sein scheint, ist es doch kein Zufall: diese Filme fanden nur wenige Zuschauer in Paris, sind in den USA gar nicht in die Kinos gekommen und haben bis vor einigen Jahren fast überhaupt keine filmkritische Literatur nach sich gezogen, mit Ausnahme einer Reihe mehr oder weniger zufälliger Rezensionen in Tageszeitungen. In gewisser Weise rührt das daher, dass es lange sehr schwierig war, die Filme überhaupt zu sehen. Bis Mitte der 1980er Jahre konnte man die Filme noch anschauen. Tatsächlich hat Debords Gönner und Freund Gérard Lebovici – ein französischer Filmproduzent, den er 1971 kennen gelernt hatte – Debords Arbeit nicht nur unterstützt, indem er das, was letztlich der situationistische Verlag war, Editions Champ Libre (der dann Editions Gérard Lebovici hieß), finanziert hat, er hat auch ein Kino gekauft – das Studio Cujas in Saint-Germain-des-Prés –, in dem die gesamte Filmproduktion Debords kontinuierlich und ausschließlich zu sehen war. Dies dauerte allerdingsnur bis zum Jahr 1984, als Debord, nachdem Lebovici auf mysteriöse und immer noch ungeklärte Art und Weise in einem Parkhaus in der Nähe der Champs Elysées ermordet wurde, plötzlich seine Filme als eine Geste des Protests und der Trauer zurückzog, die typisch situationistisch in ihrer Entschiedenheit war. Aufgebracht durch den Mord an seinem Freund und durch die Art und Weise, wie die Presse darüber berichtete, schrieb er den Artikel »Considérations sur l’assassinat de Gérard Lebovici« (Gedanken über die Ermordung von Gérard Lebovici), in dem er ankündigte, dass »die abscheuliche Art und Weise, in der die Zeitungen über den Mord berichtet haben, mich zu der Entscheidung gebracht haben, dass keiner meiner Filme jemals wieder in Frankreich gezeigt werden soll. Diese Abwesenheit wird die am ehesten passende Hommage sein«. [33]

Heutzutage erweisen sich alle Bemühungen, sich die Filme in Paris anschauen zu können, als sinnlos: der Verleih bestätigt zwar, dass er die Kopien besitzt, benötigt allerdings Debords Erlaubnis, um sie zu zeigen, und diese Erlaubnis ist nicht zu bekommen, aus Gründen, die man respektieren muss. [34]

8. Nachbemerkung: Debord und die Dispositive des Kinos

Debords Zurückziehung seiner Filme 1984 wirft natürlich die Frage auf, ob und warum sein Zorn über die Ermordung Lebovicis am besten durch ihre Entziehung – ihre Unzugänglichkeit in Frankreich – beantwortet würde. Vielleicht handelt es sich dabei bloß um praktische Erwägungen – indem Debord erkannte, dass sein eigener St. Germain Auteur- Palast (tatsächlich nichts weniger als das ultimative cinematische Dispositiv, eine Art Ciné- Bayreuth) ohne Lebovicis Unterstützung schließen müsste und ihn schlussendlich ohne einen Ort für die Präsentation seiner Filme lassen würde; anstatt also ihre Unzugänglichkeit durch banale materielle Bedingungen zuzulassen, hätte er die Initiative ergriffen und ihre öffentliche Zurückziehung von einer (bereits sehr eingeschränkten) öffentlichen Zirkulation zu einer ethischen Geste gemacht. Ungeachtet der Intention hatte dies sicherlich den Effekt, eine substanzielle Aura um diese Filme herum zu erzeugen: es gibt keinen besseren Weg, Filme mythisch aufzuladen, als siedemonstrativ zurückzuhalten. Man könnte jedoch auch argumentieren, dass der Ausschluss der Möglichkeit, die Filme als phänomenale Ereignisse zu erleben, dazu beitrug, einen bestimmten auratischen Effekt zu schmälern, den sie zweifellos ausübten, als man sie noch sehen konnte. Da Debord ein paar Jahre zuvor die Drehbücher zusammen mit einer sehr spärlichen Anzahl von Bildern in einem 1978 herausgegebenen Band mit dem Titel »Oeuvres cinématographiques complètes, 1952–1978«, veröffentlicht hatte, war der Ausschluss ihrer spektakulären Dimension – der Filme als Zelluloid-Aufzeichnung polymorpher Zweckentfremdungen – ein Weg, um auf ihrem fundamental textuellen Status zu bestehen, wobei auch die zweifellos machtvolle akustische Aura von Debord beim Lesen seiner eigenen Worte im Voice-over eliminiert wurde. Dies waren einige Fragen, die mich beschäftigten, als ich in den späten 1980er Jahren begann, über Debords Filme zu arbeiten – und welche mich veranlassten, Debord auf dem Umweg über seinen Verleger zu schreiben, um herauszufinden, ob einem jungen amerikanischern Gelehrten erlaubt würde, die Filme zu sehen. Während ich seinen Bann über ihre Aufführung in Frankreich respektierte, würde dies sicherlich eine interessierte Person wie mich nicht davon abhalten, die Filme außerhalb Frankreichs, z.B. in Deutschland, zu zeigen? – so schrieb ich ihm. Debords Antwort war – und zu meinem Erstaunen bekam ich tatsächlich eine Antwort, die der Beginn einer langen Korrespondenz und, später, Freundschaft war – , dass sein Insistieren auf Frankreich in seiner besonderen Verärgerung über die Reaktion der französischen Presse begründet lag: »Natürlich«, so schrieb er in seinem Brief vom 29. Mai 1987, »hätte ich sagen sollen: niemals mehr irgendwo«. Dieser Bann würde selbstverständlich nur Wirkung haben solange er noch lebe, denn man könne ihm schwerlich Vorwürfe für das machen, was geschieht, wenn er nicht mehr da ist. Das war in den späten 1980er Jahren – und obwohl ich schließlich die Filme doch zu sehen bekam, wenn auch auf Video, in Debords Sommerresidenz in Champot an der oberen Loire, dauerte es noch Jahre, bis ich erkannte, wie prophetisch dieser Brief war.

Am 30. November 1994, am gleichen Ort, wo ich das Privileg genossen hatte, Debords Gast zu sein und wo ich den ungehinderten Zugang zu den Filmen erhaltenhatte und viele Abende bis in die späte Nacht mit Diskutieren (und vor allem Trinken) verbracht hatte, nahm sich Guy Debord das Leben. Nicht einmal fünf Wochen nach seinem Tod, am 9. Januar 1995, sendete der kommerzielle französische Fernsehsender CANAL+ ein äußerst bemerkenswertes Programm: ein »abschließendes« für das Fernsehen gemachtes Werk, betitelt: »Guy Debord: Son Art et Son Temps«, das Debord mit der jungen Regisseurin Brigitte Cornand produziert hatte, und daran anschließend, sowohl den Film von 1973, »La Société du Spectacle«, und den Nachfolgefilm von 1975, »Réfutations«. In anderen Worten: Debords Filme wurden plötzlich nicht bloß gezeigt, sondern im Fernsehen gezeigt (und dies auf CANAL+, dem vielleicht kommerziellsten französischen Fernsehsender) mit dem Resultat, dass sie auf einmal als Videokopien weite Verbreitung fanden. Was zuvor radikal unzugänglich war, war nun in höchstem Maße verfügbar, verbreitbar, analysierbar – was nichts anderes bedeutet, als dass die Filme nun in einem post-cinematischen Dispositiv zu operieren begannen.

Die Tatsache, dass sich Debords abschließende, Medialität reflektierende Intervention auf das Fernsehen bezog, wirft eine wichtige Frage auf – ob nicht alle seine Filme, und insbesondere die späteren, auf irgendeiner Ebene im Sinne einer agonistischen Beziehung zum Fernsehen verstanden werden müssen, als Trauer des Ciné-fils über den (ersten) Tod des Kinos im Zeitalter des Fernsehens, was nichts anderes meint als das Ende dessen, was Raymond Bellour so treffend die »magische Klammer« eines spezifischen »klassischen« filmischen Dispositivs genannt hat. [35] Die verschiedenen neuen Beispiele von televisuellen Dispositiven, die in einigen späteren Filmen Debords vorkommen – in der Metro, im Verkehrskontrollzentrum der Polizei – stehen in einer dramatischen Spannung zu dem cinephilen Katalog von Filmen, die im Vorspann aufgelistet sind und dann – oft in einiger Länge – zitiert werden: John Ford, Nicholas Ray, Joseph von Sternberg, Raoul Walsh, Orson Welles, Sam Wood – ausnahmslos Klassiker einer Bildökonomie, die als solche bereits in zunehmendem Maße anachronistisch wurde angesichts ihrer Verdrängung durch die Allgegenwart des Fernsehens und seiner besonderen syntaktischen und semantischen Logik. In gewissem Sinn könnte man sagen, dass dieser Anachronismusbereits der metacinematischen Geste implizit war, die in der Praxis des ciné-détournement, der Zitation von Bildern aus der Geschichte des Kinos bestand. Dies würde auch erklären, warum Debord sich in seinem televisuellen Testament entschieden hat, die Totalität seines filmischen Oeuvres einfach im Sinne der grundlegenden formalen Geste von »Hurlements« {siehe »Hurlement en faveur de Sade«} zu präsentieren – denn es ist hier, in der Anti-Bild-Politik seines lettristischen success de scandal, wo der unabdingbar kino-bezogene Charakter seiner Faszination (buchstäblich das Schwarz und Weiß des Zelluloidstreifens) als solcher manifestiert wird. [36]

Geht man von Debords tiefem Misstrauen gegenüber dem Televisuellen aus, warum sollten seine Filme dann plötzlich nach seinem Tod im Fernsehen wiedererscheinen? In seinem Brief an mich von 1987 hatte er erklärt, dass einer der Gründe, warum er das Gefühl hatte, es nicht länger riskieren zu können, seine Filme im Umlauf zu lassen, mit »strukturellen Veränderungen« zu tun hatte, denen die Filmindustrie unter dem Druck des Fernsehens ausgesetzt sei. Nicht bereit zu riskieren, dass seine Filme einfach in das banalisierende Kontinuum dessen, was Raymond Williams das televisuelle »Fließen« nannte, eingefügt würden, sicherte er sich durch die Einziehung seiner Filme die Möglichkeit der Kontrolle über ihre rigorose Zurückweisung des televisuellen Dispositivs, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihnen sowohl den notwendigen Rahmen geben konnte (sein erstes und einziges Werk für das Fernsehen), und, wie er mir 1987 nachdrücklich in unserer Korrespondenz erklärt hatte, an dem er nicht länger am Leben wäre. Indem er dies tat, d.h. auf seinem eigenen Tod als Vorbedingung dafür insistierte, dass das Werk des Ciné-fils im Dispositiv des Fernsehens erscheinen konnte – das zumindest mit einem der Tode des Kinos synonym war – , legte Debord die Geschichte seines Engagements mit dem Kino als eine kritisch-performative Reflexion über die kulturelle Politik des Kinos im Verhältnis zur komplexen Geschichte (vor, mit und nach) seiner multiplen Dispositive dar.

 

Übersetzung: Uli Nickel

© Medien Kunst Netz 2004