Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser.

Themenicon: navigation pathMedienkunst im Überblickicon: navigation pathNarration
Virtuelle Narrationen
Von der Krise des Erzählens zur neuen Narration als mentales Möglichkeitsfeld
Söke Dinkla
 

Gerade im 20. Jahrhundert hat die Kunst des Erzählens gravierende Veränderungsprozesse und krisenhafte Situationen durchgemacht, in deren Verlauf nicht nur einmal ihr Tod prophezeit wurde. Die Kunst des Erzählens – traditionell verstanden als Darstellung des Verlaufs von wirklichen oder erdachten Ereignissen[1] – hat durch die Jahrhunderte gesellschaftlichen und politischen Wandel nicht nur thematisiert, sondern hat auch durch formale Änderungen gesellschaftlichen Wandel signalisiert, und war selbst Ausdruck dieses Wandels. Trotz aller Frakturen und Zäsuren scheint das Erzählen als kulturelle Praxis gerade am Ende des 20. Jahrhunderts eine ›Renaissance‹ zu erleben.[2] Sie ereignet sich erstaunlicherweise nicht nur in der Literatur und im Film, sondern sie kommt mit besonderer Intensität im elektronischen Medium zum Tragen. Das Internet als neue Kommunikationsform hat den Status eines Massenmediums erreicht und schreit förmlich nach adäquaten Formen der Vermittlung von Inhalten. Aber auch das bereits etablierte Medium Video greift auf erzählerische Strategien zurück und etabliert eine Form der Narration, die eine Reihe von Fragen aufwirft: Handelt es sich bei diesen narrativenPraktiken wirklich um eine Renaissance des Erzählens, das heißt um die Hoffnung, dass nach dem Zusammenbruch der großen Utopien in den 1970 er Jahren erneut eine Form gefunden werden kann, die Erzählung möglich macht? Ist diese Entwicklung in ihrer Haltung eklektizistisch, das heißt, handelt es sich bei ihr um einen Rückschritt in die Zeit vor der postmodernen Kritik und vor der grundsätzlichen Infragestellung der Repräsentation als Mittel, die gesellschaftliche Realität zu reflektieren? Oder entsteht hier vielmehr eine neue narrative Form, die in der Lage ist, in der Reflektion der Geschichte und Geschichten der Moderne eine treffende Aussage über den Zustand unserer Wirklichkeit zu machen?

Um diesen Fragen nachzugehen, möchte ich im Folgenden zunächst die historischen Bedingungen und Funktionsveränderungen des Erzählens in der Literatur am Beispiel James Joyce skizzieren, um dann seine veränderten Ausdrucksformen in interaktiven Medien- und Netzwerkarbeiten der 1980er und 1990er sowie in Videoarbeiten der 1990er Jahre darzustellen. Dabei sollen die Erzählstrategien auf ihre ästhetischen Verfahren befragt werden, mit denen sie an der

icon: top
 

(Neu)Formulierung unseres Wirklichkeitsverständnisses arbeiten. In unterschiedlichen Etappen und Medien wird seit dem späten 18. Jahrhundert das vorbereitet, was die Heterogenität der heutigen Formen des Erzählens und ihre Ausdrucksformen in elektronischen Medien ausmacht.

Der entscheidende historische und theoretische Hintergrund, ohne den die Wirkstrategien der aktuellen medialen Erzählverfahren unverständlich bleiben, ist die Krise des Erzählens um 1900. Sie äußerte sich vor allem in einer Krise des Romans und bezog sich auf den grundlegenden Zweifel an der Möglichkeit, mithilfe von linearen, kausal motivierten Geschichten die komplexe Wirklichkeit der modernen Gesellschaft darzustellen. Diese Entwicklung zeigt bis heute Nachwirkungen und wird in Netzwerkarbeiten, in interaktiven Installationen sowie in der filmisch-narrativen Videokunst der 1990er Jahre zitiert und bestimmt dort nicht nur die Form, sondern auch die Inhalte. In Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930) heißt es: »Wohl dem, der sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹ […]. Und Ulrich bemerkte nun, dass ihm dieses primitiv Epischeabhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich schon alles unerzählerisch geworden ist und nicht einem Faden mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.«[3]

Kritik des Realismus

Die Autoren der frühen Moderne kritisierten nicht etwa ganz generell traditionelle Erzählweisen, sondern sie richteten sich gezielt gegen eine Poetik des Naturalismus und damit gegen eine deterministische Weltsicht, die von naturwissenschaftlichen Verfahren geprägt ist. Sie entlarvten Ursache-Wirkungsprinzipien, chronologische Abfolgen von Ereignissen, die sich kausal entwickeln, als Spiegel der naturwissenschaftlichen Methodik. Im Zentrum der Kritik stand Emile Zolas Manifest »Le roman expérimental« (1879) , in dem er eine »wahrhaft realistische Poetik« forderte.[4] Als Mittel der Kritik hat die Kunst der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts Elemente ausgebildet, um dem herrschenden, an naturwissenschaftlicher Methodik orientierten Welterklärungsmodell

icon: top
 

entgegenzuwirken.[5] Einige dieser Elemente werden heute in den medialen Erzählformen wieder relevant, dazu gehören:

* »Entfabelung«: Jakob Wassermann bezeichnet so das Herauslösen von Geschichten aus Ursache-Wirkungsketten. Statt dessen konzentrieren sie sich auf ein bloßes Geschehen, auf eine Abfolge von Zuständen.[6]

* Simultaneität: Bedeutende Romane des 20. Jahrhunderts stellen die simultane, fragmentarische, disparate Präsenz heterogener Elemente im modernen (Großstadt)Leben dar.

* Detail: In der Erzählung der Moderne finden sich Detailbeschreibungen alltäglicher Gegenstände, deren Notwendigkeit sich einer narrativen Handlungslogik entzieht (zum Beispiel bei Alain Robbe-Grillet, dem Begründer des ›nouveau roman‹).

* Autorschaft: Die Autorschaft wird zum Thema der Erzählungen unter anderem durch eine Verknüpfung von Biografie und Werk (zum Beispiel bei Marcel Proust, Ernest Hemingway, Peter Handke).

Ein weiteres erzählerisches Mittel, das der moderne Roman entwickelte und das erst im elektronischemMedium seine volle ästhetische Wirkkraft entfalten konnte, ist das der Perspektivierung. Der Erzähler schildert das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven und befindet sich im Innern der Erzählung selbst, so dass unterschiedliche Zugänge zu der Psyche der Personen möglich werden. Verfahren wie der innere Monolog, der Bewusstseinsstrom und die freie Assoziation bestimmen die Erzählung. In der Medientheorie wird dies später weiterentwickelt zu dem »endogenen Betrachterstandpunkt «[7], der sich nicht nur auf den Autor, sondern vielmehr auf den Leser/Rezipienten bezieht. Da die Perspektivierung als erzählerisches Mittel zwar vom modernen Roman entwickelt wurde, aber erst im elektronischen Medium seine volle ästhetische Wirkkraft entfalten konnte und dort schließlich radikalisiert wurde, werde ich im Folgenden auf diese narrative Strategie näher eingehen.

Joyce und das narrative Prinzip des ›networking‹

Der Wechsel der Erzählperspektiven evoziert eine instabile Wahrnehmung, die als prägendes Merkmal bereits in den Romanen von James Joyce, besonders in

icon: top
Writing for the Second Time Through Finnegans Wake (Cage, John), 1977ULIISSES (Nekes, Werner), 1982

»Ulysses« (1922) und in »Finnegans Wake« (1939)‚ angelegt ist. Joyce setzt das Verfahren der Perspektivierung ein, um das Subjekt als einheitliche Größe aufzuspalten und seine strikte Trennung von der Objektwelt aufzuheben. Er bringt damit die Mehrschichtigkeit und Fluidität der Person zum Ausdruck. Die mehrfache Brechung des Blickwinkels sorgt dafür, dass sich das fiktive Subjekt in Relation zu dem Blickwinkel, unter dem es betrachtet wird, verändert. Joyce gibt damit die Vorstellung einer objektiven Wirklichkeit auf. Damit einher geht die Auflösung einer strengen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zugunsten einer dynamischen Darstellung.

In dem Romanwerk »Ulysses«, an dem Joyce sieben Jahre gearbeitet hat, werden die Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen des jüdischen Anzeigenmaklers Leopold Bloom, seiner Frau Molly und des jungen Stephen Dedalus in 18 epischen oder dramatischen Szenen vorgeführt. Diese Szenen werden zu bestimmten Abschnitten der »Odyssee « von Homer in Beziehung gesetzt. Joyce bezieht fast alle Bereiche der menschlichen Erfahrung in dieses Werk ein, und er erschließt neue Bereiche des Bewusstseins für dieSprache. Seine Sprache entwirft Bilder, die sich durch äußerste Mehrdeutigkeit auszeichnen. In ihrer Struktur und Metaphorik ist sie visuellen künstlerischen Äußerungen nah. Die Wahrnehmungskategorie ›Sehen‹ bekommt gerade in »Ulysses« eine für die Literatur eher ungewohnt bedeutsame Rolle.[8] Dies ist einer der Gründe dafür, dass Joyce' Literatur nicht nur die bildende Kunst, vor allem die Concept Art mit ihrem großen Vordenker und Inspirator John Cage, sondern auch den Experimentalfilm maßgeblich beeinflusst hat. Die Bedeutung Joyce' kommt dabei nicht nur in einzelnen Werken zum Ausdruck wie zum Beispiel in John Cages »Writing for the Second Time through Finnegans Wake«, 1977, und Werner Nekes Experimentalfilm »Uliisses«, 1982, sondern äußert sich generell in komplexen Werkstrukturen, in denen Vieldeutigkeiten und semantische Widerstände einen ruhelosen, aktiven Leser verlangen.

Joyce entwickelt Textstrategien, die die Wahrnehmung des Lesers stimulieren und mit seinen Wahrnehmungsfähigkeiten spielen. Der Prozess der Werkaneignung ist Gegenstand des Werkes selbst und setzt einen »impliziten Leser« voraus.[9] Erzählen ist

icon: top
Finnegans Wake (Joyce, James), 1923

nun nicht mehr nur die Darstellung des Verlaufs von wirklichen oder erdachten Ereignissen, die auf einem Sender-Empfänger-Modell beruht, sondern wird bei Joyce zu einem kommunikativen Akt. Um dies zu erreichen, entwickelt er verschiedene narrative Strategien, die sich im Folgenden als wegweisend vor allem für die Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts herausstellen werden. Insbesondere in »Finnegans Wake« stößt die lineare Erzählung eines objektiven Berichts immer wieder an ihre Grenzen. Der Text schafft ständig neue Konstellationen, die offen sind für wechselnde Verbindungen und für das Knüpfen immer neuer Knoten. Das Lesen wird zusehends zu einem ›networking‹.[10]

Das Rhizom – Metapher für hypertextuelle Narrationen

Dieser Blick auf das Joycesche Werk wäre sicher nicht ohne die poststrukturalistische Theorie und ohne die Metapher des Rhizoms möglich, die Gilles Deleuze und Felix Guattari 1977 entworfen haben. Sie schreiben: »Das Rhizom selbst kann die verschiedensten Formenannehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis hin zur Verdichtung in Knollen und Knötchen […]. Jeder beliebige Punkt des Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden.«[11] Damit bildet das Rhizom die ideale Metapher für eine narrative Strategie, die bei Joyce bereits angelegt war, die allerdings ihre ästhetische Realisierung erst mit der Entwicklung des Computers erfuhr. Seit Mitte der 1960er Jahre wurde die Erzählstrategie des Hypertexts in der Kunst diskutiert. Theodor Nelson, der den Begriff ›Hypertext‹[12] bereits 1965 prägte, verfolgte seit den 1970er Jahren die Idee, eine Software zu entwickeln, die wie die Bibliothek von Babel alle Schriften verwaltet und es den Benutzern ermöglicht, an Stellen, an denen sie weiterführenden Hinweisen folgen wollen, sofort den entsprechenden Text aufzurufen. Nelson definiert Hypertext als »nicht-sequentielles Schreiben – ein Text, der sich verzweigt und dem Leser Wahlmöglichkeiten läßt, am besten am interaktiven Bildschirm«.[13] Interaktive Installationen und Environments, die seit Mitte der 1980er Jahre in Europa und den USA entstanden, nutzen das

icon: top
Lorna (Hershman, Lynn), 1979Deep Contact; The First Interactive Sexual Fantasy Videodisc (Hershman, Lynn), 1984The Surprising Spiral (Feingold, Ken)The Narrative Landscape (Erzählerische Landschaft) (Shaw, Jeffrey), 1985Sonata (Weinbren, Grahame), 1991The Exquisite Mechanism of Shivers (Seaman, Bill), 1991

dialogische Funktionsprinzip des Computers, um die Mitwirkung des Rezipienten nicht nur strukturell, sondern auch funktional zu realisieren. Obwohl Joyce bereits einige der zentralen ästhetischen Kategorien für eine Involvierung der Leser entwickelt hat, konnten diese im Medium der Literatur nicht ihre volle ästhetische Wirkkraft entfalten. Dies gelang erst im Medium des Computers, der die mentale Interaktion untrennbar an eine physische Re/Aktivität koppelte. Erst der Computer als ›Kommunikationsmaschine‹ konnte die Sehnsucht nach einer Prozessualisierung der ästhetischen Erfahrung und gleichzeitigen Transformation in eine physische Dialogsituation erfüllen.

Kybernetik als narratives Prinzip

In der interaktiven Kunst wurde das neue digitale Medium genutzt, um non-lineare narrative Strategien zu entwickeln, die Prozesse der Imagination physisch erfahrbar machten. Wichtige Wegbereiter der interaktiven Medienkunst waren sich der Bedeutung und Rolle von James Joyce für die Konzeptionalisierung der neuen Kunstform bewusst, unter ihnen Ken Feingold, Grahame Weinbren, Bill Seaman, Simon Biggsund Jeffrey Shaw sowie in anderer Weise auch Lynn Hershman, die in »Lorna« (1983– 1984) und »Deep Contact« (1989–1990) Joycesche Erzählstrategien gewissermaßen zu ihrer ästhetischen Vollendung geführt hat. Interaktion ist für diese Künstler nicht nur aktive Interpretation, sondern Fortschreibung und imaginäre Verselbstständigung des Bild-Textangebots. Der dynamisierte und fluktuierende Erzählstoff, der sich non-linear organisiert, entsteht nicht schon im Erzähltwerden durch den Autor, sondern erst in der Interaktion mit dem Leser, der sich vom impliziten Leser zum Benutzer wandelt.

Im Unterschied allerdings zum Hypertext und auch zum Rhizom, dessen Ausgangspunkt und Endpunkt so gut wie nie miteinander übereinstimmen, sind zentrale Werke der interaktiven Kunst ähnlich wie Joyces »Finnegans Wake« von einer zirkulären Narrationsstruktur geprägt, die die Prinzipien traditioneller Logik zumindest teilweise aufhebt. Zum Tragen kommt dieses Prinzip in »The Surprising Spiral« (1991) von Ken Feingold, »The Narrative Landscape« (1985–1995) von Jeffrey Shaw, in »Sonata« (1991– 1993) von Grahame Weinbren, in »The Exqusite Mechanism of Shivers« (1992) von Bill Seaman und in Simon Biggs'

icon: top
Alchemy; An Installation (Biggs, Simon), 1990Primarily Speaking (Hill, Gary), 1981

»Alchemy« (1990).[14] Diese Werke arbeiten in sehr unterschiedlicher Weise gezielt gegen Ursache-Wirkungsprinzipien, die gerade die paradigmatische Logikmaschine Computer charakterisieren. Sie setzen das kybernetische Feedback-system, in dem auf jede (Re)Aktion eine (Re)Aktion folgt ein, um Kausalität außer Kraft zu setzen und jeder narrativen Linearität entgegenzuwirken. Sequentialität und damit ein fortschrittsorientiertes Geschichtsverständnis sind im Strudel der interaktiven Narrationen nicht mehr denkbar. Die Strukturprinzipien der Zirkularität in den genannten interaktiven Arbeiten stehen für ein postmodernes Geschichtsverständnis, das seinen Glauben an die Kraft des Fortschritts verloren hat. Die digitale Maschine funktioniert als ständiger Kreislauf eines Rückkopplungssystems. Das kybernetische Prinzip beschreibt ein Kommunikationsmodell, das den endogenen Rezipienten, der immanenter Bestandteil des Systems ist, voraussetzt. Der Rezipient wird in diesen Werken von diesen durch Vieldeutigkeiten, aber auch durch Unbestimmbarkeit und Leerstellen zur Konsistenzbildung und temporären Komplettierung der interaktiven Narration aufgefordert.

Eine ähnlich strukturelle Offenheit, in der Feedback als ästhetisches Prinzip eingesetzt wird, findet sich in den Arbeiten von Gary Hill. Allerdings kennzeichnet sie weniger eine veränderte Form der Erzählung als eine andere Form des Schreibens. Sprache als Bedeutungs- und Zeichensystem wird in ihren grundlegenden Funktionen und Regeln offengelegt und so in Funktionskontexte eingebunden, dass Bedeutungen und Interpretationen situativ und subjektiv wechseln. Das Video »Primarily Speaking« (1981–1983), ursprünglich Teil einer Acht-Monitor-Installation, stellt eine komplexe Wechselbeziehung zwischen gesprochenen Worten und Bildern her. Der gesprochene Text ist eine Montage von Klischees, Wortspielen und Redewendungen und läuft über zwei parallelen Bildern ab. Obwohl die Bedeutungen der meist simplen ›ur-amerikanischen‹ Sätze auf der Hand zu liegen scheinen, entstehen in der Konfrontation mit den Bildern irritierende und widersprüchliche Bedeutungen. Sie entfernen sich von der ersten offensichtlichen Konnotation, nehmen andere Bedeutungen an, die mit den jeweiligen Bildkonstellationen wechseln. Die Worte scheinen, sich

icon: top
Mörderische Entscheidung (Hirschbiegel, Oliver), 1991Kinoautomat; One Man and his Jury (Çinçera, Radúz), 1967Kyldex (Schöffer, Nicolas; Henry, Pierre; Nikolais, Alwin), 1973

um sich selbst zu drehen, um dann zur ursprünglichen Bedeutung zurückzukehren, dort kurz zu verweilen und neue unvorhersehbare Konstellationen einzugehen. Nichts ist festgeschrieben und jede Bedeutung existiert nur in ephemeren Verbindungen mit anderen Bedeutungen. Gary Hills elaborierte Sprachspiele lassen einen reflexiven Denkraum entstehen, der im Betrachter die Vorstellung von einer von unendlich vielen möglichen Bedeutungen wachruft.[15]

Dialogische Experimente im Kino, Theater und Fernsehen

Mit dialogischen narrativen Strategien, die weniger auf Vieldeutigkeiten als auf neue Formen der Betrachterinvolvierung ausgerichtet sind, arbeiten interaktive Filme wie »Mörderische Entscheidung« von Oliver Hirschbiegel, ein Krimi, der 1992 in ARD und ZDF gleichzeitig ausgestrahlt wurde. Er knüpft an frühe Versuche des interaktiven Kinos an, wie sie 1967 im tschechoslowakischen Pavillon auf der Weltausstellung in Montréal zu sehen waren. Hier wurde der Film »One Man and his Jury« an bestimmten Stellen angehalten, und die Zuschauer konnten durch Knöpfe in denArmlehnen über den weiteren Verlauf des Geschehens entscheiden. Im Theater realisierte Nicolas Schöffer mit Pierre Henry und Alwin Nikolais die multimediale Inszenierung des ›Schau-Spiels‹ »Kyldex«, das 1973 an der Hamburger Staatsoper uraufgeführt wurde. Jeder Zuschauer wurde vor Beginn der Aufführung mit verschiedenfarbigen Kellen ausgestattet, mit denen das Bühnengeschehen beeinflusst werden konnte. »Kyldex« ging einen Schritt weiter als der interaktive Film »One Man and his Jury«, denn das Stück wurde durch die Interventionen der Zuschauer vollständig in narrative Fragmente zerlegt, aus denen sich kaum noch ein kausal motivierter Handlungsverlauf rekonstruieren ließ. Dieser Prozess der Zuschauerbeteiligung, der in den 1960er und 1970er Jahren vor allem durch die Erprobung neuer Formen der politischen Mitbestimmung motiviert war, wurde in den 1990er Jahren mit der Software Cinematrix für interaktives Kino weiterentwickelt. Das System wurde 1991 als Prototyp auf der SIGGRAPH in Las Vegas präsentiert. 1994 setzten es Loren und Rachel Carpenter für interaktive Spiele eines großen Publikums auf einer Großleinwand im Rahmen des Ars Electronica Festivals

icon: top
La plissure du texte (Ascott, Roy), 1983Little Sister (Zapp, Andrea), 2000

in Linz ein. Zuschauer konnten mithilfe von Kellen, die mit roter beziehungsweise grüner Reflexionsfolie bezogen waren, das Geschehen auf der Großprojektion beeinflussen und miteinander Spiele spielen.[16] Diese Versuche fanden keine weitere Fortsetzung, denn zwei widerstreitende Konzepte – das traditioneller Repräsentationsformen und das der Interaktion – existierten unreflektiert nebeneinander. Die Werkstrukturen des interaktiven Kinos, Theaters und Fernsehens waren in den 1960er/1970er Jahren wie auch in den 1990er Jahren nicht so angelegt, dass es ihnen gelingen konnte, das Repräsentationsmodell Bühne mithilfe der Zuschauerintervention kritisch zu brechen.

Verteilte Autorschaft, kollektive Erzählformen

Gelungen ist dies kollektiven Erzählformen, die seit Mitte der 1980er Jahre Telekommunikationstechniken und den Computer verwenden, um das Prinzip der Autorschaft zu destruieren. Roy Ascott war einer der ersten, der mit »La plissure du texte«[17] (1983) ein Projekt der verteilten Autorschaft initiiert hat. Er selbst bezeichnet es als »kollaboratives Projekt desGeschichtenerzählens«, bei dem Künstler aus Europa, Nord Amerika und Australien Textbeiträge lieferten, die in dem ARTEX-Computernetz zusammenliefen. Ähnlich ist die Struktur von Andrea Zapps Online-Projekt »Little Sister« (2000) angelegt, das sie als »CCTV Drama« und »24 Hrs online Surveillance Soap« bezeichnet. Narrative Fragmente werden hier den Stereotypen der Soap Opera entliehen. Mit dieser Referenz auf Modelle kohärenter, in sich geschlossener Identitätsentwürfe spielen Ascott wie Zapp etablierte, in ihrer Uniformität oft erstarrte Erzähltypen gegen Formen der non-linearen Narration aus. An die Stelle kohärenter Identitätskonzepte tritt in der non-linearen Narration von Netzarbeiten der Entwurf fluider Persönlichkeiten. Diesen Persönlichkeiten liegt ein Identitätsentwurf zugrunde, der die Entgrenzung des Subjekts als gegeben voraussetzt. Betraf Entgrenzung bei Joyce vor allem die Vereinigung getrennter Erfahrungsbereiche, bei dem der gegenwärtige Erfahrungsraum mithilfe der Vorstellungskraft und des Bewusstseins zu einem Zwischenraum oder Übergangsraum wird, gelingt es Lynn Hershman in ihren ortsspezifischen performativen, interaktiven Netzarbeiten die Subjektgrenzen nahezu

icon: top
Imaginäre Bibliothek (PooL Processing), 1990IO_dencies (Knowbotic Research), 1997Dialogue with the Knowbotic South (Knowbotic Research), 1994

aufzulösen. Die Protagonistinnen besitzen nicht nur instabile Identitäten, es sind ›shifting personalities‹, die die Nicht-Existenz der Grenzen zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen verinnerlicht haben. Als Subjektentwurf liegt ihnen nicht mehr das perspektivierte Subjekt wie bei Joyce und auch nicht das der multiplen Persönlichkeiten zugrunde, sondern das virtuelle Subjekt – das Subjekt als Möglichkeitsform –, dessen Identität nur momentane Gültigkeit hat und sich in jedem Moment durch die Interventionen der Betrachter/Benutzer neu manifestiert.

Das virtuelle Subjekt als Identitätsentwurf kennzeichnet auch die Benutzer von Netzwerkarbeiten wie »Die imaginäre Bibliothek« von PooL Processing, die 1990 als Diskursnetz mit dem Ziel des »offensive Ausspielens aller Methaphern einer elektronischen Bibliotheksphantasie«. Das Ziel der Anwendung ist es, durch verzweigtes assoziatives Lesen und Navigieren den Benutzer in ein Netzwerk aus Texten zu verstricken und somit eine Beteiligung des Lesers an dem Imaginationsraum Bibliothek zu simulieren. Inspiriert wurde die Gruppe PooL Processing dabei nicht nur von Jorge Luis Borges »Die Bibliothek vonBabel« und Umberto Ecos »Der Name der Rose«, sondern auch von dem Minitel-Schreibprojekt, das 1985 im Rahmen der Ausstellung »Les Immatériaux« im Pariser Centre Pompidou von Jean-François Lyotard konzipiert wurde.[18]

Diskursive Felder

Während diese Projekte bewusst auf die kulturelle Praxis des Schreibens und des Erzählens referieren, versucht die Gruppe Knowbotic Research, jegliche Anleihen bei tradierten Repräsentationssystemen zu vermeiden. In ihren Arbeiten entwerfen sie zeichenhaft organisierte Strukturen, in denen visuelle, textuelle, narrative und auditive Strukturen ohne hierarchische Ordnung organisiert sind. In Netzprojekten wie »IO_dencies« (1997–1999)[19] und in interaktiven Environments wie »Dialogue with the Knowbotic South« (1994–1997) entstehen in Bewegung geratene, non-lineare Ordnungen, die räumlich erfahrbar und assoziativ zu erkunden ist. Es sind diskursive Felder oder ›Handlungsräume‹, die die Benutzer ermächtigen, einzugreifen und die Komplexität nach eigenen Kriterien zu ordnen. Gerade diese Fähigkeit, eigene

icon: top
 

Kriterien zu bilden, wird hier auf die Probe gestellt, denn der Benutzer befindet sich in einer Situation permanenter Unsicherheit, da seine Versuche, auf herkömmliche Weise Repräsentationen zu bilden, kontinuierlich scheitern. Es gelingt in keinem Moment, die abstrakten Signaturen zu bekannten Repräsentationen zu formen.

In interaktiven Environments und Netzarbeiten bewegt sich der Benutzer durch das Werk hindurch; dabei entstehen temporäre, fragmentarische Narrationen. Die Situation des Benutzers lässt sich jetzt nicht mehr mit der Denkfigur des »impliziten Lesers« (Iser) oder des »Betrachters im Bild« (Kemp) erfassen, denn das ›Im-Werk-Sein‹ ist an eine gleichzeitige physische Erfahrung des ›Außen‹ gekoppelt. Es wird nicht nur imaginiert, sondern durch Bewegung verursacht und physisch erlebt. Der Benutzer entwirft den narrativen Raum als Möglichkeitsform, in der Handlungsalternativen körperlich erprobt werden können. So ist es möglich, zwischen körperlicher Erfahrung und intellektueller Erkenntnis zu vermitteln. Es kann gelingen, eine Wirklichkeit, die sich abstrakt und zeichenhaft organisiert, erfahrbar zu machen und an den Körper rückzukoppeln.

Cinematische Non-Linearität

Mit ihrer Einschätzung, dass erst eine Negation bisheriger Formen der Repräsentation von Wirklichkeit – und damit auch bisheriger Formen des Erzählens – das Hervorbringen von etwas Neuem ermöglicht, unterscheidet sich Knowbotic Research nicht nur von Künstlern wie Shaw, Weinbren, Seaman, Feingold und Biggs, sondern auch von Künstlern, die in ihren Video- und Filminstallationen narrative Strategien zitieren, um sie zu dekonstruieren und sie so auf ihre Potenz, Wirklichkeit zu repräsentieren, zu befragen. Zu diesen Künstlern zählen unter anderem Stan Douglas, Diana Thater, Eija-Liisa Ahtila, Aernout Mik, Sam Taylor-Wood. Obwohl es zunächst scheint, als wäre die Wahl der chronologisch-sequentiellen Medien Video und Film hinsichtlich der Auslotung alternativer non-linearer Erzählstrukturen ein medialer Rückschritt, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die an der Praxis des Kinos orientierte, cinematische Videoinstallation gerade durch die Wahl ihres Mediums in der Lage ist, das Kino als erzählmächtige Technik und damit als kulturelles Dispositiv[20] zu thematisieren, zu reflektieren und zu dekonstruieren. Die KünstlerInnen arbeiten mit und gegen die spezifische Konstellation

icon: top
Broken Circle (Thater, Diana), 1997Onomatopoeia (Douglas, Stan), 1985Win, Place or Show (Douglas, Stan), 1998

des Kinos: die immersive Wirkung des dunklen Raumes, die helle Video- oder Filmprojektion, das Verhältnis zwischen Projektion und Zuschauer sowie mit und gegen Erzählstrategien, die die Macht des Erzählkinos à la Hollywood bis heute ausmachen. Sie werden so nicht nur zu Kritikern der cinematischen Wirkungsweise, sondern zugleich auch zu deren Komplizen. Ihre Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem Manipulationspotenzial des Kinos und dessen Tendenz, den Besucher in illusionistische Zustände abseits der Alltagswirklichkeit zu versetzen.

In Videoinstallationen wie »Broken Circle« (1997 ) verwendet Diana Thater Strategien, die auf das Erzählkino verweisen und zugleich eine neue Form von Kino als Zeit- und Illusionsmaschine entwickeln. Auch Sam Taylor-Wood und Aernout Mik arbeiten mit ähnlichen Intentionen und lassen Schlussfolgerungen auf unsere Film- und Kinoerfahrung im Allgemeinen zu. Sie zeigen, dass und wie ›anti‹-narrative und ›anti‹-illusionäre Strategien in der Rezeption des Betrachters letztlich wieder zu einer veränderten Form von Narrationen und Illusionen führen. Diese KünstlerInnen sind sich bewusst, dass weder Sprache noch Bilderohne die Ideologien, die sie begleiten, verwendet werden können. Einige setzen obsolete Systeme der Repräsentation ein, um das zu zeigen, was nicht repräsentierbar ist. Stan Douglas sagt dazu: »In dem Moment, in dem die Formen der Kommunikation obsolet werden, dienen sie als ein Index zum Verständnis der Welt, die uns nicht mehr zugänglich ist. Das ist der Kern einer Arbeit wie ›Onomatopoeia‹ (1985–1986), wobei das Lautmalerische eine Welt darstellt, die die Welt aus dem Klang der Darstellung erschafft […]. Abwesendes ist häufig der Gegenstand meiner Arbeit. Selbst wenn ich diese obsoleten Darstellungsformen wieder auferstehen lasse, verweise ich immer auf deren Unvermögen, den eigentlichen Gegenstand der Arbeit darzustellen. Es handelt sich immer um etwas, das außerhalb des Systems liegt.«[21]

In »Win, Place or Show« (1998), einer raumgreifenden Videoinstallation, baut sich über mehrere Erzählebenen ein Konflikt zwischen zwei Männern auf, der in einer kurzen Rauferei eskaliert. Auf zwei nebeneinander stehenden Leinwänden ergänzen die Bilder einander, wiederholen die Situation aus einer etwas anderen Perspektive oder

icon: top
Sonata (Weinbren, Grahame), 1991Talo (Das Haus) (Ahtila, Eija-Liisa), 2002

zeigen eine andere Erzählebene. Immer, wenn man glaubt, eine Szene wiederhole sich, läuft sie wieder etwas anders ab, so dass sich grundlegende Zweifel darüber einstellen, was man eigentlich gesehen haben könnte. Douglas setzt narrative Strategien des Fernsehdramas ein, die in uns die Erwartung wecken, wir würden Zeuge eines TV-Dramas, um diese Erwartungshaltung gleich wieder zu durchbrechen, denn es gelingt zu keinem Zeitpunkt, uns in gewohnter Weise mit dem erzählten Geschehen zu identifizieren. Wir werden uns immer wieder unseres unsicheren Betrachterstandpunkts bewusst. Douglas fragt sich, wie Repräsentation heute noch möglich ist, und weiß, dass das, was gesagt werden soll, nur durch ein komplexes System von Referenzen gesagt werden kann. Daher versucht er, Bedeutungen zu schaffen, die in gewisser Weise autonom sind und keine eindeutige Referenz in der Wirklichkeit haben. Damit sind seine Geschichten nur in Ansätzen lesbar. Sie bewegen sich zwischen historischer Authentizität und Fiktion, zwischen Lesbarkeit und dem gezielten Verbergen von Sinnhaftigkeit. Sie verlangen vom Betrachter ein Höchstmaß an bildersprachlicher Kompetenz und mentaler Aktivität.

Paradoxe Erzählstrukturen

Neben der Erhebung der Betrachterperspektive/n, genauer: der Wahrnehmungskonditionen, zum wesentlichen Thema der Arbeit ist in der Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre die Kategorie ›Zeit‹ ein weiteres wichtiges Mittel, um Narrationen zu dekonstruieren. An einem Ort verschränken sich zwei oder mehrere Zeitebenen. Paradigmatisch ist dies nicht nur in den Arbeiten von Stan Douglas, sondern auch bei Grahame Weinbren (insbesondere in »Sonata«) und bei Eija-Liisa Ahtila. Ahtilas Arbeiten sind geprägt von paradoxen Erzählstrukturen. Es ereignen sich immer wieder Vorfälle, die in die Sequentialität nicht einzufügen sind und die in der zeitlichen Ordnung des Erzählten keinen Platz zu haben scheinen. In der Videoinstallation »The House« (2002) springt der Betrachter von einem Ereignis zum nächsten, das mit Ausnahme der einführenden Sequenz entweder im Innern eines kleinen Hauses oder in den Gedanken der Protagonistin stattfindet. Die Protagonistin beginnt, Geräusche zu hören, von denen nie ganz klar ist, ob es ihre eigenen Gedanken, Erinnerungen an vergangene Ereignisse oder parallele Ereignisse sind, die zur gleichen Zeit an einem anderen Ort passieren. Es

icon: top
Consolation Service (Ahtila, Eija-Liisa), 1999Anne, Aki and God (Ahtila, Eija-Liisa), 1998

findet eine Verschmelzung zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt statt. Als klassisches narratives Mittel setzt Ahtila die ›Stream-of-consciousness-Technik‹ ein, mit deren Hilfe schon Joyce den Prozess des Denkens selbst zum Thema machte. Dieses narrative Mittel ermöglicht es, die Welt der Linearität, der Logik und der Klarheit zu verlassen. Die Werke Ahtilas wie die von Lynn Hershman setzen die Entgrenzung des Subjekts als gegeben voraus. Sie zeigen, dass das Zwanghafte, Absurde und Fantastische Teil unserer Wirklichkeit ist.

Auch in der räumlichen Präsentation von »The House« findet sich die paradoxe Erzählstruktur wieder: Dadurch, dass drei ähnliche, aber nicht identische Videofilme auf drei Projektionsflächen zu sehen sind, entsteht der Eindruck, dass Ereignisse, die plausiblerweise folgen müssten, übersprungen werden oder mehrmals stattfinden. Die Szenen schweben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Gegenwart, wie Daniel Birnbaum schreibt: »Die Vergangenheit ist gegenwärtig. Etwas ist geschehen: ein Unfall, eine Katastrophe, ein tragisches Ereignis.Die Arbeit entfaltet diesen Prozess des Auf- und Durcharbeitens – einen Prozess des Trauerns, der aus Erzählfragmenten besteht, ohne einen übergeordneten kohärenten Zusammenhang präsentieren zu können.«[22] Neben der Verschränkung mehrerer zeitlicher Ebenen finden in Ahtilas Arbeiten wie »Consolation Service« (1999) oder »Anne, Aki, and God« (1989) Verschränkungen unterschiedlicher Realitätsebenen statt. So lässt sie narrative Elemente aus Genres wie Dokumentarfilm, Spielfilm, Musikvideo und Werbespot gleichberechtigt nebeneinander stehen. Sie unternimmt Verwebungen und Vernetzungen im gesamten Bereich der audiovisuellen Kultur, so dass ihre Narrationen virtuell bleiben – sie befinden sich in einem schwebenden Zustand, in dem viele mögliche Bedeutungen gleichzeitig anwesend und abwesend sind.

Dekonstruktion von Narrationen

Im Umgang mit dem narrativen Parameter ›Zeit‹ in der Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre spielen sowohl Beschleunigung als auch Langsamkeit eine

icon: top
The Greeting (Viola, Bill), 1995Bear (McQueen, Steve)24 Hour Psycho (Gordon, Douglas)Revolution (Shaw, Jeffrey), 1990

besondere Rolle. Bill Violas Videoinstallation »The Greeting« (1995) ist geprägt von einer starken Verlangsamung des Bildrhythmus. Die ursprünglich auf Film gedrehte Begrüßungsszene zwischen drei Frauen wird in einem solchen Maß gedehnt, dass jede einzelne Bildsequenz nicht mehr im Kontext der vorangegangenen und der folgenden gelesen wird, sondern vielmehr als Einzelbild autonom für sich steht und so mit Bedeutung förmlich aufgeladen wird. Narrative Zusammenhänge lösen sich zugunsten der »Präsenz des Moments«[23] auf. Auch Steve McQueen arbeitet in seinem Film »Bear« (1993) mit Manipulationen der Zeit. Ausschnitthafte Kameraeinstellungen, die Details ins Zentrum rücken, brechen übergeordnete narrative Bezüge auf. Erzählerische Elemente formieren sich nicht zu einem Plot, so dass die Bedeutung letztendlich im Verborgenen bleibt. Steve McQueen rückt so den Prozess des Beobachtens, besser: den Prozess der Sinnproduktion, selbst ins Zentrum seiner Arbeiten.[24]

In »24 Hour Psycho« (1993 ) hat Douglas GordonAlfred Hitchcocks Film »Psycho« extrem verlangsamt. Damit hebt er die Kontinuität des Geschehens auf und macht das Lesen einer ursprünglich kohärenten Erzählung unmöglich. Die Beziehungen der Handlungen untereinander werden aufgelöst, so dass Dramaturgie und Psychologie der Personen ihre Bezüge verlieren und in narrative Fragmente zerlegt werden.[25] Eine vergleichbare Wirkung erzielt Jeffrey Shaw in »Revolution« (1989) mit dem Mittel der Beschleunigung der Bilder und einer gleichzeitig extremen Verlangsamung der Betrachterbewegung. Der Betrachter wird hier zum Benutzer und dreht mit Hilfe eines Holzhebels einen Videomonitor um seine eigene Achse. Dadurch setzt er Bilder in Bewegung, die revolutionäre Ereignisse zwischen 1789 und 1989 zeigen.[26] Selbst wenn sich der Benutzer sehr langsam bewegt, wechseln die Bilder so schnell, dass sie nur blitzartig aufscheinen. Trotz größter Mühe, gelingt es nur, diejenigen Ereignisse zu entziffern, die im individuellen Geschichtsbewusstsein verankert sind.

icon: top
 

Aktivierung der Erinnerung

In diesem Verfahren, historische Erzählfragmente zu verwenden, gibt es eine geistige Nachbarschaft zwischen den Arbeiten Stan Douglas' und Jeffrey Shaws. Historische Elemente dienen beiden Künstlern nicht etwa als Verweis auf das, was sie erzählen, sondern auf die Funktion, die sie als kulturelle Form der Kommunikation für uns besitzen. Sie zeigen weniger, das, was sie uns bedeuten, als das, was sie uns nicht mehr bedeuten können. Oder aber sie verweisen auf eine Bedeutung, die heute unterdrückt wird und nicht mehr möglich ist. Historische Elemente werden weder bei Shaw noch bei Douglas metaphorisch eingesetzt. Sie verwenden sie statt dessen als Zeichen – Zeichen, die im Baudrillardschen Sinn nicht mehr auf ein Bezeichnetes verweisen, sondern nur noch auf sich selbst.[27] Bedeutungen konstituieren sich nicht mehr durch die Zeichen selbst, sondern durch die Nachbarschaft zu anderen Zeichen.

In diesem Sinn zeugen auch die Videoarbeiten von Aernout Mik und Sam Taylor-Wood von derUnmöglichkeit, Bildsequenzen als Zeichen, die auf ein Bezeichnetes verweisen, einzusetzen. Beide verwenden narrative Fragmente, besser: narrative ›bits‹, die nur die Möglichkeit der Erzählung einer Geschichte nahe legen – einer Geschichte, die virtuell bleiben muss. Der Betrachter wird zum Lesen einer kausalen Handlung ermutigt, scheitert aber kontinuierlich daran, die narrativen ›bits‹ zu einem übergeordneten Ganzen zu montieren. Sam Taylor-Wood spricht hier auch von »dysfunktionaler Narration«.

Entschlüsselung kultureller Codes

Diese Form der Narration, die die Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre prägt, spielt mit unserer Sehnsucht, Codes zu entschlüsseln und Zusammenhänge herzustellen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass eine gemeinsam für alle Gesellschaftsschichten gültige Ikonografie weitgehend verloren gegangen ist, dass es aber sehr wohl ein kollektives Wissen über audiovisuelles Erzählen gibt, das durch historische Symbole und Erzählmotive sowie durch Stereotypen des Fernsehens, des Kinos und des

icon: top
The Surprising Spiral (Feingold, Ken)The Gaze of Orpheus (Islam, Runa)A Room of One\'s Own; (Echo Narcissus) (Hershman, Lynn), 1990Passage Sets; One Pulls Pivots at the Tip of the Tongue (Seaman, Bill), 1995Anne, Aki and God (Ahtila, Eija-Liisa), 1998Electric Earth (Aitken, Doug), 1999

Internets[28] geformt ist. Der Betrachter, sein Blick, sein Wissen, seine Erwartungen – kurz seine kulturell bestimmte Wahrnehmungskonditionierung –, seine Verfahren, Sinn zu konstituieren und Repräsentationen zu bilden, sind die Hauptthemen der Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre, die mit narrativen Elementen arbeitet – ganz gleich, ob im digitalen oder analogen Medium. Die Arbeiten handeln vom Ungewissen (Ahtila, Douglas, Hershman), dem Überraschenden (Feingold, insbesondere »The Surprising Spiral«, 1991), der intimen Zwiesprache (Runa Islams »Gaze of Orpheus«, 1998, Hershmans »Room of One's Own«, 1992), von dem, was der Ratio nicht zugänglich ist (Thater, Ahtila, Seaman, Weinbren), von dem, was ungesagt bleibt oder nicht gesagt werden kann (Seaman's »Passage Sets. One Pulls Pivots at the Tip of the Tongue«, 1995).

Der mobile Betrachter

Sie alle arbeiten mit dem Eindruck des Unvollendeten: Netzarbeiten, interaktive und Multiscreen-Videoinstallationen hinterlassen beim Betrachter/Benutzer das Gefühl, das Entscheidende verpassthaben zu können, das gerade auf einer anderen Leinwand beziehungsweise in einem nicht verfolgten Erzählstrang geschehen ist.[29] So entsteht zu keinem Moment der Eindruck, einem kohärenten Ganzen gegenüberzustehen, sondern sich in einem komplexen »agencement«[30] – einem Gefüge von Wechselbeziehungen – zu bewegen. Der Begriff ›bewegen‹ macht schon deutlich, dass die narrative Medienkunst den mobilen Betrachter voraussetzt. Videofilme werden auf mehreren Leinwänden gezeigt, die von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet werden können (zum Beispiel in »Anne, Aki and God«, 1998, von Ahtila) oder sie erstrecken sich über mehrere Räume, die nacheinander abgeschritten werden müssen zum Beispiel in »Electric Earth«, 1999, von Doug Aitken). In diesen Arbeiten wie in Netzprojekten und interaktiven Installationen wird eine Vielzahl von Erzählrichtungen angeboten, aus denen letztlich der Betrachter eine Auswahl trifft. Die narrative Struktur der Medienwerke arbeitet hier mit Verfahren des Hypertexts: Jedes narrative Fragment konstituiert sich erst in einem Umgebungsfeld, zu dem

icon: top
 

es in Beziehung steht. Die Rezeption ist nicht linear, sondern sie entspricht dem ›Browsing‹, dem ziellosen Durchstreifen von Informationsangeboten, das digitalen Datenmengen eigen ist und das erst dann Vergnügen bereitet, wenn der Versuch der gewohnten zielgerichteten Rezeption aufgegeben wird. Eine Erzählung ist dann nicht mehr eine vom Autor vorgegebene Darstellung des Verlaufs von wirklichen oder erdachten Ereignissen, die vom Leser/Betrachter nur noch nachvollzogen wird, sondern die momentane Manifestation der narrativen Route des Benutzers. Das ›Browsen‹ durch narrative Sequenzen und fragmentierte Informationsangebote lässt für jeden Benutzer eine immer etwas andere ›Geschichte‹ entstehen.[31]

Kritik großer Erzählentwürfe der Moderne

Die KünstlerInnen unterziehen so das Erbe der Moderne einer kritischen Befragung. Sie thematisieren ihre Mythen und unrealisierbaren Utopien, die unser Denken über Wirklichkeit noch immer bestimmen. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der Subjektivität, um einen Ort für das Subjekt auszumachen, und siebeschäftigen sich mit den Technologien der Repräsentation, um zu erkunden, wie Repräsentation heute (wieder) möglich ist. Hier klingt eine Hoffnung an, ein Abweichen vom Nihilismus der 1970er und frühen 1980er Jahre, von der Radikalität des ›Stop making sense‹ (der Verweigerung von kohärenten Sinnzusammenhängen) , die in diesem Licht nun selbst als totalisierende Geste erscheint. Die ›Wiederentdeckung‹ des Narrativen in den 1980er/ 1990er Jahren ist also kein Rückfall in eine Zeit vor der Negation der großen Erzählentwürfen der Moderne, sie ist vielmehr deren Kritik, denn sie geht davon aus, dass Erzählung als kulturelles Dispositiv unsere Wahrnehmung und unsere Verfahren der Sinnkonstitution nach wie vor beeinflusst. Gleichzeitig tragen die veränderten Formen der Narration dem Medienwandel Rechnung, denn sie verlassen sich nicht mehr darauf, dass herkömmliche Verfahren der Produktion von Bedeutung noch greifen. Sie versuchen vielmehr, Bedeutungen zu schaffen, die autonom sind und keine eindeutige Referenz in der Wirklichkeit besitzen. Damit ziehen sie den veränderten Charakter der digital codierten Information, die heute unsere Wirklichkeit

icon: top
 

bestimmt, ins Kalkül: Denn digitale Daten sind prinzipiell ohne Referenz in der physischen Welt und haben damit ihren Abbildcharakter verloren. Im Unterschied zu traditionellen analogen Reproduktionsverfahren lässt sich das digitale Bild unabhängig vom Ausgangsmedium auf unendliche Variationen der Zeichen 1 und 0 reduzieren. Diese Zeichen verweisen auf nichts außer sich selbst – sie sind selbstreferentiell. Ohne diesen medialen Hintergrund sind die aktuellen Formen der Narration als zeitgemäßer Ausdruck der Wirklichkeitsveränderung nicht zu verstehen. Erst der Wandel vom analogen zum digitalen Medium macht den grundlegenden Zweifel, an dem, was wirklich ist, und die Suche nach veränderten Möglichkeiten der Repräsentation von Wirklichkeit verständlich.

Erzählung als konnektives System

Während Haltungen, Konzeptionen und Motive der Netzkunst und der interaktiven Kunst der 1980er große Gemeinsamkeiten mit der Videokunst der 1990er Jahre aufweisen, unterscheiden sie sich doch in einer Hinsicht voneinander: in der Wahl ihres Mediums. Ein Aspekt, der dann, wenn Wahrnehmungskonditionen desBetrachters sowie kulturelle Dispositive der Kommunikation zum zentralen Thema werden, nicht zu unterschätzen ist. Denn die Wahl des Mediums ist immer auch ästhetisches Statement. Die Künstler, die den Computer als Medium einsetzen, transportieren dessen fortschrittsoptimistische Ideologien mit (und durchkreuzen sie in den oben angeführten Beispielen gleichzeitig). Sie haben in den 1980er Jahren als der Computer gerade dabei war, sich zum paradigmatischen Medium zu entwickeln, die ästhetischen Vorraussetzungen dafür geschaffen, dass der Betrachter seine veränderte Rolle als Benutzer einüben konnte.[32] Im ›Browsing‹ durch hypertextuelle Erzählstrukturen konnte er eine Kompetenz entwickeln, die es ihm ermöglichte, mit audiovisuellen Informationen umzugehen, deren Wirklichkeitscharakter obskur bleiben musste. Er übte sich in der Sinnproduktion dessen, was nicht gesagt werden kann, und verschaffte sich Zugang zu Bildern, die nichts abbildeten. Er navigierte durch ein System miteinander in Beziehung stehender Bedeutungen und lernte so, durch Referentialität temporäre ›Geschichten‹ zu bilden.

icon: top
 

Auf dieser Kompetenz der konnektiven Sinnkonstitution konnten die Videoinstallationen der 1990er Jahre dann aufbauen. Sie haben das rhizomatische Denken in das Medium Video/Film überführt und so versucht, das analoge Medium zu transformieren. Obwohl, oder besser: gerade weil sie ein Medium nutzen, das chronologisch-sequentiell organisiert ist und nicht per se non-lineare Erzählweisen nahe legt wie das digitale Medium, gelingt es der Videokunst, die Erwartung einer narrativen, kausal motivierten Erzählsequenz zu wecken, um diese letztlich in hypertextuelle Strukturen aufzulösen.

Die hypertextuelle Erzähltechnik, mit der wir es seit den 1980er Jahren zu tun haben, hat ihre Motivation vor allem darin, dass das Interesse der KünstlerInnen nicht der Repräsentation von Wirklichkeit, sondern vielmehr der Generierung von Wirklichkeit gilt. Die neuen Dimensionen des Wirklichen, die dabei entstehen, sind nicht festgeschrieben, sie sind in Bewegung und können ihre Konstellationen ständig ändern. So entsteht ein Raum des Möglichen – ein Raum für das Spiel mit möglichen, mit virtuellen Narrationen.

icon: top